Insel der Menschlichkeit
Der 4. Januar war für 19 Menschen ein ganz besonderer Tag. Mit der Unterstützung von ehrenamtlichen Helfern bezogen sie das Ellinor-Holland-Haus im Augsburger Textilviertel.
Ein neues Kapitel in der 50-jährigen Geschichte der Stiftung „Kartei der Not“ wurde aufgeschlagen. Im Gespräch erläutert die Kuratoriumsvorsitzende, Ellinor Scherer, das Modellkonzept.
Was bedeutet die Inbetriebnahme des Ellinor-Holland-Hauses für Sie?
Ellinor Scherer: Das Ellinor-Holland-Haus, dessen Namensgeberin unsere Mutter ist, stellt einen wichtigen Baustein der Kartei der Not dar. Es freut mich, dass wir unter der Schirmherrschaft von Bundesminister a. D. Dr. Theo Waigel das deutschlandweit einmalige Modellkonzept realisieren konnten. Wir bieten alleinerziehenden Müttern sowie behinderten, chronisch kranken und alten Menschen ein Zuhause auf Zeit, um ihnen einen erfolgreichen Start in ein neues, eigenständiges Leben zu ermöglichen.
Zuhause auf Zeit – was bedeutet das konkret?
Scherer: Unsere Bewohner bekommen bis zu drei Jahre Zeit, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die Kartei der Not leistet somit aktiv einen Beitrag zur Selbsthilfe. Wichtig ist uns, dass die Bewohner motiviert sind und bleiben. Deshalb vereinbaren sie mit der Sozialpädagogin Susanne Weinreich persönliche Etappenziele, die sie in bestimmten Zeitabständen erreichen müssen.
Wie viele Wohneinheiten umfasst das Ellinor-Holland-Haus?
Scherer: Die insgesamt 28 barrierefreien Wohnungen sind zwischen 42 und 86 Quadratmeter groß. Herzstück des neun Millionen Euro teuren Projekts ist der Gemeinschaftsraum, in der sich die Bewohner treffen und austauschen können.
Wie wird das dazugehörige Kinderhaus angenommen?
Scherer: Das Ellinor-Holland-Kinderhaus ist seit September in Betrieb. Hier finden insgesamt 72 Kinder in zwei Krippengruppen sowie je einer Kindergarten- und Hortgruppe ausreichend Platz zum Spielen und Lernen. Sowohl die jungen Bewohner des Ellinor-Holland-Hauses als auch Nachbarskinder fühlen sich im Kinderhaus rundum wohl.
Als dritte Säule ging ein Tante-Emma-Laden in Betrieb. Was erwartet den Besucher dort?
Scherer: Zum einen deckt der Tante-Emma-Laden in der Otto-Lindenmeyer-Straße 45 die Nahversorgung optimal ab. Das angeschlossene Café mit seinen 25 Sitzplätzen und einer Freifläche für die Sommermonate soll zu einem beliebten Treffpunkt des Textilviertels werden. Zum anderen bietet das Ladengeschäft Qualifizierungsmöglichkeiten für Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht unterkommen.
Wie wurde das Projekt finanziert?
Scherer: Wir haben Zuschüsse wie beispielsweise von der Landesstiftung bei der Errichtung des Wohnhauses sowie vom Freistaat, der Stadt Augsburg und der Aktion Mensch für die Kindertagesstätte bekommen. Den Löwenanteil aber mussten wir selbst stemmen. Teils mithilfe von Rücklagen, teils durch Förderer und Spender. Ohne sie wäre ein solches Projekt nicht realisierbar. Allen Geldgebern gilt – auch im Namen aller Kuratoriumsmitglieder – ein herzliches Dankeschön.
Wird sich die Arbeit der Kartei der Not mit dem Ellinor-Holland-Haus verändern?
Scherer: Ja und nein! Selbstverständlich bleibt trotz dieses Großprojekts der Schwerpunkt der Stiftung unstrittig: die Einzelfallhilfe. Wir werden auch in Zukunft Menschen aus unserer Region, die unverschuldet in Not geraten sind, unbürokratisch und schnell helfen. Nur haben wir künftig zusätzlich die Möglichkeit, einige Fälle über die akut notwendige Hilfe hinaus zu begleiten.
Welche Hilfsbedürftigen können sich an die Kartei der Not wenden?
Scherer: Das sind Bürger, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, unabhängig von Nationalität und Bevölkerungsschicht. Menschen, die seit mindestens einem Jahr in unserer Region leben und durch eine schwere Krankheit, einen Unfall, eine Behinderung oder durch einen Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen wurden. Es gibt Senioren, deren winzige Rente nicht einmal für die Heizkosten reicht. Von ihren Männern verlassene Mütter, die sich allein um ihre kleinen Kinder kümmern müssen. Wir geben Geburtstagsbeihilfen, um Kindern, deren Eltern sich keine Feier leisten können, Glücksmomente zu bereiten. All diese Mitmenschen brauchen unsere Hilfe. Doch der Staat zieht sich aus vielen Bereichen zurück. Auch die Krankenkassen bezahlen nur noch das Allernötigste. Ohne privates Engagement geht es nicht. Alle Spenden gehen seit jeher ohne jeden Abzug von Verwaltungskosten direkt an die Bedürftigen.