Die Symphonie vom Sterben
Wie der Komponist Abschied nahm von dieser Welt – Zum 100.Todestag
Augsburg Sowohl in der Novelle „Der Tod in Venedig“, geschrieben unmittelbar nach Gustav Mahlers Tod, als auch im Roman „Doktor Faustus“ (1947) verleiht Thomas Mann seinen Helden Züge Gustav Mahlers und übernimmt Biographisches aus dessen Leben. In beiden Werken geht es um Sterben und Tod: In der Novelle verscheidet Gustav Aschenbach; im „Faustus“ wird Leverkühn, ein „deutscher Tonsetzer“ abberufen, dem im Roman-Verlauf das Liebste, ein Kind, qualvoll wegstirbt – wie realiter Mahler 1907 die Tochter „Putzi“.
Mit diesem Tod beginnt die Entstehungsgeschichte von Mahlers neunter und letzter vollständiger Symphonie, die ihrerseits vom Sterben und Tod Gustav Mahlers handelt. In tragischer Weise hatten sich seine Anfang des Jahrhunderts komponierten Kindertotenlieder erfüllt; in tragischer Weise erfüllt sich 1911 auch die neunte Symphonie, eine Art sechstes, großes Totenlied. Mahler hörte es nicht mehr. Es ist erschütternd und unfasslich, wie sich in den letzten Takten der Neunten ein Schaffen rundet: Erwachte in den ersten Takten der ersten Symphonie genesisartig die Musik Mahlers, so haucht sie im Finale der Neunten ihr Leben aus.
Als „Putzi“ nach einem Kehlkopfschnitt gestorben war und Alma Mahler deshalb einen Schwächeanfall erlitt, ließ sich auch Mahler vom herbeigerufenen Landarzt untersuchen. In Alma Mahlers Erinnerung lautete der Befund: „Na, auf dieses Herz brauchen Sie aber nicht stolz zu sein!“ Umgehend suchte Mahler einen Spezialisten auf, der diagnostizierte: „Doppelseitiger, angeborener, obwohl kompensierter Klappenfehler“. Äußerste Schonung wurde dem nunmehr todgeweihten Mahler zur Auflage gemacht; er kam ihr zwanghaft nah, indem er beim Laufen beständig Puls und Schritte der Kontrolle unterzog.
Der zu Tönen geronnene Herzfehler
Selten gelingt an Hand eines Notenbildes der Nachweis, eine Komposition bringe Autobiographisches zum Klingen. Alban Bergs Violinkonzert ist ein solch rarer Fall. Auch Mahlers Neunte kann als Beispiel dienen: Eine Indizien-Kette schafft Beweis dafür, dass der Komponist hier seinen Abschied von dieser Welt sang. Die Indizien finden sich vor allem in den Ecksätzen, während die Mittelsätze – ein sarkastischer Totenreigen und ein sarkastischer Lebenstanz im Sinne der Vergeblichkeit irdischer Mühen – mehr als eine Ergänzung zur Bedeutung der Symphonie begriffen werden müssen.
Die ersten Takte des ersten Satzes „Andante commodo“ geben drei Motive vor, die zwar zunächst nur vage als „Todesklänge“ definiert werden können, im Verlauf des Geschehens aber, zumal auf dessen Höhepunkt unmissverständliche Aussage annehmen. Es sind dies: ein stockender Rhythmus in den Celli, der als der zu Tönen geronnene Herzfehler Mahlers ausgelegt werden kann; Sekundschritte abwärts in den Geigen, als Seufzermotiv speziell bei Mahler eine Vokabel der Trauer; eine mahnende Glockenton-Folge auf der Harfe. Variiert kehrt all dies wieder ab Takt 308, wo Mahler „Höchste Kraft“, dann „mit höchster Gewalt“, schließlich klärend „Wie ein schwerer Kondukt“ (Leichenzug) vorschreibt.
Das Herzstolpern übernehmen nun im Fortissimo die Posaunen; die Tonfolge der Harfe geht auf drei reale Glocken im Orchester und auf die Pauken über; das Seufzermotiv, das sich zuvor als ein Zitatfragment ausgerechnet aus Beethovens Klaviersonate „Les Adieux“ zu erkennen gab, spielen nun die Hörner. Düstere Trompetenfanfaren treten hinzu und später auf der Pauke die Tonfolge a – d, in der Schriftsprache zu lesen als: „Ade!“. Mahlers Zerrissenheit und bitterer Ironie aber entspricht es, wenn er in diesen Satz noch ein Zitat aus Straußens Walzer „Freut euch des Lebens“ einbaut.
Ein Ende durch Blutvergiftung
Noch fesselnder ist es, die Todesthematik im „Adagio“ zu erkunden. Auch hier zitiert Mahler, nun sich selbst. In Konzentration eines Grundklangs seines gesamten Schaffens und gleichsam als Fazit der Neunten zieht er variierte Wendungen aus dem „Urlicht“-Satz der „Auferstehungssymphonie“ und aus dem vierten „Kindertotenlied“ heran – sowie eine Erinnerung an das „Lied von der Erde“. Alle Reminiszenzen sind am Originalplatz durch Unterlegung von Gesangstexten in der Aussage eindeutig bestimmt: Im „Abschied“ aus dem „Lied von der Erde“ geht es um das Verlassen der Welt, im „Urlicht“ singt die Altistin an der entsprechenden Stelle: „im Himmel sein“ und das vierte „Kindertotenlied“ spricht an seinem Schluss vom Wiedersehen im Jenseits.
Dass Mahler in vollkommenem Bewusstein der Todessymbolik zitiert, lässt sich aus seinen Anweisungen ableiten. In der gesamten Neunten verlangt er immer wieder vom Orchester „morendo“. Auf der letzten Partiturseite aber übersetzt er das Wort in „ersterbend“. Die Ausdrucksbezeichnung „ersterbend“ kommt in Mahlers Œuvre jedoch nur noch an zwei anderen Stellen vor – im „Abschied“ aus dem „Lied von der Erde“ und im „Urlicht“.
1910 stellen sich bei Mahler Mandelentzündungen ein. Sie heilen nicht aus. Wieder in New York, bekommt er unter der winterlichen Theatersaison Fieber, Schüttelfrost sowie einen Kollaps und dirigiert dort im Februar sein letztes Konzert. Mit Streptokokken im Blut – Mahler nennt sie seine „Viecherln“ – wird er über Paris nach Wien gebracht. Dort stirbt er 50-jährig an Blutvergiftung am 18. Mai 1911.
Obiger Text begleitete in erweiterter Form Aufführungen der Neunten Mahlers durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und durch die Staatskapelle Dresden.
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