Schottland bleibt ein geteiltes Land - so oder so
Nie zuvor haben sich so viele Menschen in Schottland für Politik begeistert. Doch fast die Hälfte von ihnen wird am Freitagmorgen enttäuscht sein. Vielleicht sogar wütend.
Der vielleicht wichtigste Tag in der Geschichte Schottlands versinkt im typischen Herbstnebel. Die mächtige Burg, die auf einem Felsen über der Hauptstadt Edinburgh thront, ist im morgendlichen Dunst noch kaum zu erkennen. Doch vor den Wahllokalen bilden sich schon lange Schlangen.
An jeder Straßenecke in der Altstadt stehen Kamerateams. Sie warten auf Menschen mit „Yes“-Aufklebern und „No“-Fähnchen. Geschäftsleute und Rentner, junge Paare und ganze Familien antworten Ja oder Nein auf die Frage, ob Schottland ein unabhängiger Staat werden soll.
Wie ernst den Schotten diese Entscheidung ist, sieht man in ihren Gesichtern
Wie ernst die Schotten diese Entscheidung nehmen, ist vielen in die Gesichter geschrieben. „Es ist absolut historisch, die wichtigste Entscheidung für Generationen“, sagt ein Mann im Anzug. „Das ist vielleicht der größte Moment im Leben“, findet eine Mutter und schaut ihre beiden Söhne im Teenager-Alter streng an. „Ich hoffe, ihr habt richtig gewählt?“
Erstmals in der britischen Geschichte sind Jugendliche ab 16 stimmberechtigt. Doch nicht nur die junge Generation, das ganze Land hat in den vergangenen Monaten eine wohl beispiellose Politisierung erfahren.
Menschen, die sich nie zuvor für Politik interessiert haben, machen plötzlich Wahlkampf. Beim Familienfrühstück wird über die richtige Antwort auf die Frage gestritten, ob die Schotten ohne Großbritannien wirklich besser dran wären. Unglaubliche 97 Prozent der 4,4 Millionen Wahlberechtigten lassen sich registrieren. Zum Vergleich: Bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland hat am vergangenen Wochenende gerade einmal jeder Zweite seine Stimme abgegeben.
In der Polarisierung eines ganzen Volkes liegen Gefahren
Auch in Schottland liegt die Wahlbeteiligung normalerweise weit niedriger. Bei der letzten Parlamentswahl gingen gerade mal 50,4 Prozent der Bürger wählen. Doch in diesem Fall ist alles anders: Wie vielleicht nie zuvor spüren die Schotten, dass ihre Stimme die Zukunft des Landes verändern kann.
Im Pub, im Taxi, an der Supermarktkasse: Überall schnappt man Pro- und Kontra-Argumente auf. Die Menschen in dem kleinen stolzen Land wissen: Es geht buchstäblich um jede Stimme. Denn die Umfragen waren bis zuletzt fast ausgeglichen.
Dass die Bravehearts dem Referendum derart enthusiastisch entgegenfieberten, kann man als Sternstunde der Demokratie feiern. Doch in der Politisierung – und Polarisierung – eines ganzen Volkes liegen auch Gefahren. Denn es ist ja nicht nur so, dass jeder Schotte plötzlich eine Meinung zur Unabhängigkeit hat. Viele vertreten diese Meinung so vehement, dass kaum Verständnis für die Ansichten der anderen Seite Platz hat. Ein Kommentator der Zeitung Guardian fasst die Ängste so zusammen: „Das Referendum gibt nicht nur Macht, es spaltet auch. Diese Spaltung könnte sogar das länger vorhaltende Vermächtnis sein.“
Viele Schotten sehen den Walkampf der vergangenen Wochen mit Sorge
Und so sehen viele Schotten den engagierten Wahlkampf der vergangenen Monate mit Sorge. Das Lager derer, die für einen souveränen Staat gestritten haben, ist praktisch gleich groß wie das Lager derer, die sich als Teil Großbritanniens fühlen. Egal, wie das Ergebnis am Freitagmorgen also lauten wird: Die Hälfte der Schotten wird enttäuscht sein. Vielleicht sogar wütend.
Schottland nach dem Referendum ist ein geteiltes Land – so oder so. Das weiß auch Alex Salmond. Der charismatische Chef der Scottish National Party, der den ungeliebten Herren in London die Abstimmung abgerungen hat, beschwört deshalb immer wieder die Einheit des Landes. Ab Freitag gebe es nur noch „Team Scotland“, sagt er. Und die Kirche ruft Unionisten und Unabhängigkeitskämpfer vorsorglich auf, gemeinsam Harmonie zu schaffen, wenn die Entscheidung gefallen ist. Sogar Versöhnungsgottesdienste sind geplant.
Ab heute werden sowohl die Politiker in Westminster als auch jene in Edinburgh vor allem eine Aufgabe zu lösen haben: die Gräben, die der Wahlkampf aufgerissen hat, zuzuschütten. Im Schatten des Referendums ging eine andere historische Wahl auf der Insel gestern beinahe unter. St. Andrews, einer der ältesten Golfclubs der Welt, stimmte darüber ab, ob nach 260 Jahren auch Frauen als Mitglieder zugelassen werden. Ein „Yes“ galt in diesem Fall als sicher.
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