Zwischen Mindestlohn und Restrisiko
Acht Jahre nach dem Reformrausch von Leipzig kehrt eine geläuterte CDU in die Messestadt zurück -mit neuen Ansichten und Plänen. Von einem Linksruck aber will Merkel nichts wissen.
Eine mitreißende Rednerin war sie noch nie. Angela Merkel steht schon zehn Minuten vor dem Parteitag der CDU, als zum ersten Mal ein kleiner Ruck durch den Saal geht. Die Kanzlerin ist gerade bei der Katastrophe von Fukushima, ihrer Energiewende und den vielen Widerständen, die es landauf, landab gegen neue Stromtrassen oder Speicherkraftwerke gibt, aber auch gegen einen Bahnhof wie den in Stuttgart oder gegen drei Kilometer Stadtautobahn in Berlin.
Viele Menschen dort, klagt sie, seien immer nur gegen etwas. „Wir sagen, wie wir es machen.“ Es ist die Passage in ihrer Rede, für die sie den stärksten Beifall erhält. Jubelnd halten einige Delegierte große Transparente in die Kameras: „Für Stuttgart 21“.
Bereits im Vorfeld alle Konflikte entschärft
Hauptschule? Mindestlohn? Schuldenkrise? Es ist keines von den großen, den erwarteten Themen, das den Parteitag in Leipzig da aus seiner Lethargie reißt, sondern eines von den eher nebensächlichen – was vermutlich auch daran liegt, dass es kaum noch ein strittiges Thema gibt, das die CDU noch erörtern müsste, so elegant hat die Parteiführung bereits im Vorfeld alle Konflikte entschärft. In den Anträgen, über die am Ende abgestimmt wird, findet sich jeder wieder, Anhänger und Gegner der Hauptschule, Befürworter und Gegner des Mindestlohns, der Wirtschaftsflügel, die Sozialpolitiker, die Abgeordneten aus dem Europaparlament.
Acht Jahre nach dem Reformrausch von Leipzig mit der berühmten Steuererklärung auf dem Bierdeckel und der Kopfpauschale für die Krankenkasse kehrt die CDU geläutert in die Messestadt zurück. Ein Mann wie Norbert Blüm, Helmut Kohls treuer Sozialminister, wurde damals noch ausgepfiffen. Heute ist er mit seiner Partei wieder im Reinen.
Von Linksruck will Merkel nichts wissen
Von einem Linksruck aber will Angela Merkel nichts wissen – auch wenn der am Montagabend beschlossene Mindestlohn bisher genauso wenig zum christdemokratischen Repertoire gehört hat wie der zügige Ausstieg aus der Kernkraft oder das Ende der Wehrpflicht. „Die Zeiten verändern sich atemberaubend“, verteidigt die Kanzlerin sich. Wer hätte denn vor einem Jahr an eine Revolution in Nordafrika gedacht und daran, dass Gaddafi stürzt? Oder an Fukushima, durch das das Restrisiko plötzlich „ein Gesicht bekommen hat“. Auch eine Partei wie die CDU, findet deren Vorsitzende, muss da ihre alten Antworten überprüfen und neue finden.
Der Mindestlohn "ist richtig"
Vor acht Jahren war die CDU noch in der Opposition und die Bundesrepublik das Land mit den schwächsten Wachstumsraten in Europa. „Heute sind wir Stabilitätsanker und Wachstumslokomotive.“ Das eigentliche Ziel von Leipzig 2003, Deutschland wieder zu einer der drei stärksten Volkswirtschaften in Europa zu machen, sei damit erreicht, sagt die Vorsitzende nun zufrieden: „Wir haben unser Land nach vorne gebracht.“ Und was den Mindestlohn angeht, soll der Wirtschaftsflügel aus ihrer Sicht nur nicht zu laut klagen: Auch in Deutschland, moniert die Kanzlerin, gebe es Unternehmen, die lieber einen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne führten als einen um die besten Köpfe. Eine verbindliche Untergrenze wie die CDU sie nun einführen will, betont die Regierungschefin knapp, „ist richtig“.
Von den Grünen zur CDU
Oswald Metzger war vor acht Jahren noch Bundestagsabgeordneter der Grünen. Inzwischen ist er Mitglied der CDU und erinnert sich schmunzelnd, wie frenetisch die Partei in Leipzig einem Mann wie Friedrich Merz applaudiert hat, dem mit dem Bierdeckel. Heute argumentiert Metzger nicht anders als der schneidige Reformer Merz damals. Die neue Steuer auf Finanzgeschäfte, die die Koalition jetzt in der Euro-Zone einführen will? Ein Placebo, weil dann die Geschäfte eben nicht mehr in Frankfurt gemacht würden, sondern in London.
Das Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder zuhause betreuen und nicht gleich in die Krippe geben? Eine zusätzliche Sozialleistung, und das auch noch zum falschen Zeitpunkt. Schließlich, stichelt Metzger, bringe Deutschland den anderen Ländern in Europa gerade bei, wie man richtig spare. Gelegentlich schlägt die Politik schon ungewöhnliche Kapriolen: Ein ehemaliger Grüner erklärt der CDU, dass sie nicht zu sozialdemokratisch werden darf.
"Brauchen nicht weniger Europa, sondern mehr"
Die Parteichefin selbst allerdings klingt streckenweise ganz ähnlich. Die Schuldenkrise, warnt Angela Merkel, sei nicht über Nacht entstanden, sondern Ergebnis jahrzehntelanger Versäumnisse und Ausdruck eines Denkens, „das kein Morgen kennt – ökologisch, sozial und ökonomisch“. Und längst ende die Verantwortung einer Regierung nicht mehr an den Grenzen ihres Landes: „Die irischen Sorgen sind auch die slowakischen und die spanischen Sorgen sind auch unsere deutschen Sorgen.“ Scheitere der Euro, warnt sie mit etwas mehr Pathos als sonst, dann scheitere auch Europa, das für sie nicht nur ein Staatenbündnis ist, sondern „eine Schicksalsgemeinschaft.“ Den Delegierten, die ihre Politik der teuren Rettungsmaßnahmen eher skeptisch verfolgen, redet sie deshalb noch einmal eindringlich ins Gewissen: „Wir brauchen nicht weniger Europa, sondern mehr.“
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