So erwischte die Kripo den Augsburger Kinderarzt
Harry S. entführt und missbraucht jahrelang Kinder. Er hinterlässt Spuren, doch erst voriges Jahr fügt sich das Puzzle zu einem Bild.
Ein Nachbar entdeckt den kleinen Marco (Name geändert) in der Tiefgarage einer Wohnanlage in der Dachauer Straße in München. Der Junge kauert weinend am Boden. Er hat keine Hose mehr an, die Unterhose ist verschwunden. Zuhause erzählt der Bub, damals vier Jahre alt, seiner Mutter dann vom Missbrauch durch einen fremden Mann. Der Fall spielt sich am 4. Juni 2012 ab. Obwohl die Münchner Kripo intensiv ermittelt, führt zunächst keine Spur zum Täter. Zwei Jahre später wird der Fall doch noch geklärt.
Harry S. wurde durch sein Handy überführt
In dem Fall in München ist eine DNA-Spur entscheidend, die nach dem Missbrauch am Genitalbereich des Jungen gesichert wird. Im Jahr 2014 stoßen Kripobeamte bei einer ähnlichen Tat in Augsburg auf den gleichen genetischen Fingerabdruck – es ist ein sogenannter Spur-Spur-Treffer. Wenige Wochen später, als bei Hannover der fünfjährige Jayden entführt und missbraucht wird, findet man erneut dieselbe Täter-DNA. Und es gibt ein Handy, das an verschiedenen Tatorten ins Netz eingeklinkt war. So kommen die Ermittler auf den Augsburger Kinderarzt Dr. Harry S., 40, der in Augsburg, München und Hannover gearbeitet hat. Mitte Oktober vorigen Jahres ist der Verdacht so konkret, dass es für einen Haftbefehl reicht.
Seit eineinhalb Wochen läuft vor dem Augsburger Landgericht nun der Missbrauchsprozess gegen S. Er hat gestanden, seit dem Jahr 1998 über 20 Jungen missbraucht zu haben. Am Dienstag haben die Eltern weiterer Opfer ausgesagt. Die Kinder haben demnach die Erlebnisse ganz unterschiedlich verarbeitet – allerdings war der Missbrauch auch unterschiedlich schwer.
In vielen Fällen sprach Harry S. die Kinder auf der Straße an und lockte sie in Keller und Tiefgaragen. Mehrere Kinder waren danach verängstigt und es fiel ihnen schwer, gegenüber Erwachsenen – etwa Lehrern – noch Vertrauen zu fassen. Eine Mutter berichtet, ihr Sohn habe sich danach nicht mehr gerne fotografieren lassen, etwa bei Familienfeiern. Ihr damals sechsjähriger Sohn wurde zusammen mit einem Freund im Jahr 2013 von S. angesprochen und in den Keller eines Mehrfamilienhauses im Augsburger Stadtteil Haunstetten gelockt. Der Arzt hatte die Jungen aufgefordert, sich auszuziehen und danach Fotos vom Genitalbereich der Kinder gemacht. Auch er selbst hatte sich entblößt.
Auch nach der Tat von Harry S. verhalten sich einige Kinder auffällig
Ein Bub wollte sich nach dem Missbrauch nicht mehr nackt ausziehen – etwa beim Waschen oder bei Arztterminen. Er schlief nicht mehr alleine ein, hatte Angst alleine aufs Klo zu gehen und war verschlossener als zuvor. Zudem sei ihr Sohn heute noch enttäuscht, dass er die Playmobil-Ritterburg, die ihm der Mann versprochen hatte, nicht bekam, berichtete seine Mutter. In vielen Fällen ließ Harry S. die Kinder am Tatort zurück mit dem Versprechen, jetzt ein Spielzeug zu holen. Dann flüchtete er.
Einige Kinder hatten hinterher ihren Eltern etwas von den Vorfällen erzählt – so wie im Münchner Fall im Jahr 2012. Andere sagten dagegen daheim nichts. Deren Eltern erfuhren erst davon, als die Kripo nach der Verhaftung von S. im Herbst vorigen Jahres auf seinen Computern Fotos von den Missbrauchstaten fand. Die Befragung durch die Kripo sorgte dafür, dass die Kinder sich noch einmal mit dem Geschehen beschäftigen mussten. Einige Jungen, erzählen Eltern, verhielten sich erst danach auffällig.
S. soll nicht nur Kinder auf der Straße angesprochen haben. Er soll auch seine Position als Chefarzt beim Roten Kreuz in Augsburg genutzt haben, um Ausflüge für benachteiligte Kinder zu organisieren – auch hier kam es zu Übergriffen. Er soll zudem zwei Söhne von Lebensgefährtinnen missbraucht haben. Teils soll er die Jungen dazu mit Medikamenten betäubt haben. Der Prozess vor der Jugendkammer des Landgerichts ist bis kommendes Jahr terminiert. Er wird am Donnerstag fortgesetzt.
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