Verschwundene Dörfer und ihre Geschichte
Im historischen Ortsnamenbuch von Bayern sind Orte dokumentiert, die es heute nicht mehr gibt. Die zuständigen Forscher gehen auch Stadtteilnamen und deren Bedeutung auf den Grund.
Teigscherre, Kindlingen, Hagenried, Kupferhammer, Gaisweiler, Wildershofen – wer kennt diese Namen noch? Im Historischen Ortsnamenbuch von Bayern für den Altlandkreis Wertingen sind sie mit einem Kreuz gekennzeichnet – wie Verstorbene. Wo einmal Häuser, Ställe und Scheunen standen, ist jetzt Ackerland, verläuft eine Straße oder ist ein Wald gewachsen. Überall in Schwaben gibt es solche „Wüstungen“ – verschwundene Ortschaften, an die manchmal noch ein Flurname erinnert, oder auch nur eine Urkunde in einem Archiv. Doch ihre Existenz wird in akribischer Arbeit dokumentiert.
Generationen von Archivaren kümmern sich um "abgegangene" Orte
Ob ein Ort noch besteht oder ob er „abgegangen“ ist, weil seine Bewohner ausstarben, macht keinen Unterschied. Im Historischen Ortsnamenbuch von Bayern werden sie seit den 1950er Jahren alle erfasst. Generationen von Archivaren, Historikern und Sprachwissenschaftlern sind an dem Langzeitprojekt der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Akademie der Wissenschaften beteiligt.
Gut 60 Jahre arbeiten sie nun schon daran, die Herkunft, Bedeutung und Entwicklung von Ortsnamen vom Einödhof bis zur Großstadt zu erforschen und so auch die Geschichte der Besiedelung ein Stück weit nachzuzeichnen. In keinem Regierungsbezirk ist die flächendeckende Erfassung für die bis zur Gebietsreform 1972 bestehenden Altlandkreise jeweils in einem eigenen Band so weit gediehen wie in Schwaben.
Während in Oberbayern vier Bände herauskamen – zwei davon über Schrobenhausen und Pfaffenhofen –, sind in Schwaben zuletzt Band 12 und 13 über Schwabmünchen und Wertingen erschienen. Band 14 (Nördlingen) und 15 (Augsburg) müssen nur noch gedruckt werden, sagt Professor Werner König, 71. Der Dialekt-Spezialist der Universität Augsburg betreut das Projekt und hat die Bearbeitung von allein fünf Altlandkreisen als Doktorarbeiten vergeben. Seit seiner Emeritierung geht das nicht mehr. Deshalb bleiben noch drei weiße Flecken: Memmingen, Neu-Ulm und Illertissen.
Es entstanden Werke mit mehr als 300 Seiten
Besonders fleißig war in der Anfangszeit der Kaufbeurer Archivar Richard Dertsch. 1953 brachte er im Auftrag der Kommission sein erstes, broschiertes Werk über Marktoberdorf heraus. Es hatte gut 100 Seiten und kostete zwölf Mark. Dertsch ließ bis 1974 drei weitere Bände über Kaufbeuren, Kempten und Sonthofen folgen. Die Bücher vieler verschiedener Autoren wurden immer detaillierter und umfangreicher. Inzwischen sind es Wälzer mit Umfängen von mehr als 300 Seiten.
„Jeder Band erfordert mindestens drei Jahre Arbeit“, sagt König. Mit schon veröffentlichten Ortsnamenbüchern etwa von Heimatforschern konnten sich seine Doktoranden nicht zufriedengeben. Damit ihre Interpretationen wissenschaftlichen Bestand haben, mussten sie selbst in den Archiven suchen. „Am wichtigsten für die Deutung des Ortsnamens ist der älteste Beleg, weil er am meisten über die Motive zur Gründung aussagt.“ Sesshaft wurden die Menschen zuerst an den Flüssen, auf guten Böden und entlang der Römerstraßen, erläutert König. Die Ortsnamen beziehen sich oft auf einen Anführer oder das Oberhaupt einer Sippe.
Urkunden aus dem 8. Jahrhundert als Grundlage
Seit dem 8. Jahrhundert seien Urkunden erhalten – besonders viele im Raum Lindau, das zum Gebiet des Klosters St. Gallen gehörte, besonders wenige in den Gebieten des Bischofs von Augsburg und des Reichsstifts St. Ulrich und Afra, deren Archive bei Stadtbränden im 11. und 12. Jahrhundert große Verluste erlitten haben. Ob die damals vernichteten Urkunden wohl die Rätsel um die Augsburger Stadtteilnamen Pfersee, Kriegshaber und Haunstetten entschlüsseln könnten? Für diese drei gebe es keine befriedigende sprachwissenschaftliche Erklärung, sagt König. Manche mündliche Überlieferung aus vorrömischer oder sogar vorkeltischer Zeit liege im Dunkeln. Auch solche Unklarheiten müssten in der wissenschaftlichen Arbeit klar benannt werden.
Das Historische Ortsnamenbuch von Bayern für bisher 13 schwäbische und vier oberbayerische Altlandkreise ist im Verlag Laßleben, Kallmünz, erschienen. Die Bände kosten zwischen sechs und 48 Euro.
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