Hier bitte stolpern
An vier Orten in Neu-Ulm sind seit Montag Gedenksteine auf dem Bürgersteig zu finden. Sie sollen an Opfer des Nationalsozialismus erinnern – und nicht die einzigen bleiben
Ein grauer Morgen in Neu-Ulm. Es nieselt leicht. An der Augsburger Straße 34 hat sich auf dem Bürgersteig eine Traube Menschen versammelt. Mit ernsten Gesichtern schauen sie auf den Mann, der in ihrer Mitte am Boden neben einem kleinen Loch kniet. Dieser ist gerade dabei, einen glänzenden Messingstein in den Boden zu klopfen. Fünf weitere liegen neben ihm auf dem Bürgersteig. Einer nach dem anderen findet seinen Platz in dem kleinen Loch. Fest verankert sitzen sie dort von nun an in der Erde. An der Augsburger Straße sollen sie in Zukunft an jene Neu-Ulmer Bürger erinnern, die im Nationalsozialismus ihr Leben verloren haben.
Bei den Steinen, die am Tag des jüdischen Neujahrsfestes Rosch ha-Schana sowohl in Neu-Ulm als auch in Ulm verlegt wurden, handelt es sich um die sogenannte Stolpersteine. Der Künstler Gunter Demnig lässt diese in ganz Deutschland vor den letzten selbst gewählten Wohnorten von NS-Opfern in den Bürgersteig ein. Inzwischen liegen solche Gedenktafeln bereits in über 500 Orten in Deutschland – nun auch in Neu-Ulm an vier Standorten. Für viele sind sie Mahnmal und Grab in einem, da die meisten Opfer nie richtig beerdigt wurden.
Im Kreis der Angehörigen und im Beisein der Neu-Ulmer führten der stellvertretende Bürgermeister von Neu-Ulm, Albert Obert, und Pfarrer Martin Tränkle, der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, gemeinsam durch die Verlegung. „Wer stolpert, muss innehalten“, sagen sie unter anderem. Neben dem Standort in der Augsburger Straße 34 wurden auch in der Beethovenstraße 11, in der Bahnhofsstraße 12 und in der Schützenstraße 38 Stolpersteine verlegt. Dort sollen sie ab sofort Gedenkstätte für die Familie Bissinger, das Ehepaar Karnowski, für Alfred Neuburger und Siegmund Liebermann sein – insgesamt zehn tragische Schicksale. Ulrich Seitz, Stadtrat in Neu-Ulm und Vorsitzender des Historischen Vereins Neu-Ulm, hat die sechs Steine der Familie Bissinger gestiftet. Er sieht sie als lebensbegleitende Erinnerung. „Es ist schön, wenn die Bürger die Steine direkt vor der Haustüre haben. So werden sie jeden Tag auf der Straße gesehen und rücken das Schicksal dieser Menschen ins Bewusstsein der Neu-Ulmer“, sagt er. Denn auf den mit Messingplatten überzogenen Pflastersteinen sind die Namen der Opfer, Tag und Ort der Deportation sowie ihr Todesdatum zu lesen.
An der Initiative Stolpersteine beteiligten sich auch rund 30 Schüler der Inge-Aicher-Scholl Realschule und der Christoph-Probst-Realschule in Neu-Ulm. Sie recherchierten intensiv zu den Lebensgeschichten der jüdischen Familien. Mareike Kuch, Sachgebietsleiterin für Kultur und Sport in Neu-Ulm, findet es besonders wichtig, dass gerade die jüngere Generation einen Bezug zum Geschehenen bekommt. „Indem die Schüler den einzelnen Schicksalen der Neu-Ulmer Opfer auf die Spur gehen, wird ihnen die Geschichte viel näher gebracht“, sagt sie. Gleichzeitig bekomme die Stadt so ein Stück ihrer Geschichte und die Opfer ihre Namen und ihre Würde zurück, sagt Kuch. Bisher seien 13 Biografien von deportierten Neu-Ulmern bekannt. Die Suche solle aber auf jeden Fall weitergehen. Die nächsten Stolpersteine sind bereits für Oktober 2016 geplant.
Bis es soweit ist, hat Gunter Demnig aber noch einen vollen Terminkalender vor sich. Allein am gestrigen Montag fanden noch zwei weitere Verlegungen statt. 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es bei der Aufarbeitung der deutschen Geschichte noch viel zu tun. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitiert Demnig den Talmud, eines der bedeutendsten Schriften des Judentums.
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