Ein Stundenkilometer fehlte
München/Ingolstadt/Nürnberg. Die Sessel sind bequem gepolstert, das Ambiente wird beherrscht von gediegenen Holz-intarsien. An den Fenstern zieht die Landschaft in einer Geschwindigkeit vorbei, die Otto Normalverbraucher bisher nur aus dem Flugzeug kannte. Und dennoch kommt kein Geschwindigkeitsrausch auf. Bei Tempo 300 könnte man meinen, man steht immer noch am Bahnsteig in Ingolstadt, würde die Landschaft nicht an den Fenstern vorbeihuschen.
Von unserem Redakteur Manfred Dittenhofen, München/Ingolstadt/Nürnberg.
Deshalb kleben die Augen aller Passagiere auch mehr an den Digitalanzeigen, die in alle Großraumabteile die Geschwindigkeit des ICE auf der Fahrt von Ingolstadt nach Nürnberg mitteilen. Nach dem über sieben Kilometer langen Tunnel bei Kinding beginnt der Zug zu beschleunigen. 250... 258... 267... 279... 286... 299 Kilometer pro Stunde! Das Blitzlichtgewitter in Richtung Geschwindigkeitsanzeige kann zwar die "Dreihundert" nicht festhalten, aber der letzte klitzekleine km/h, der am Ende fehlt, sei der Bahn verziehen. Denn die Hochgeschwindigkeit erreichte schließlich ein doppelter ICE zwei normal lange ICE waren hintereinander gekoppelt und verfügten somit über vier Triebwagen in Begleitung eines zweiten Zuges, der im "Formationsflug" auf der parallelen zweiten Spur fuhr. Ein sicher einmaliges Bild für die Beobachter an der Strecke: Zwei ICE-Züge parallel auf gleicher Höhe mit Tempo 300 unterwegs zwischen Ingolstadt und Nürnberg.
Derweilen drückten sich im 400 Meter langen "Doppel"-ICE geladene Gäste und Medienvertreter die Nasen an den Fenstern platt und konnten gar nicht glauben, wie ruhig die Fahrt bei dieser hohen Geschwindigkeit sein kann. Bei Kaffee und Butterbrezen genossen die Gäste die Reise nach Nürnberg. Im vordersten Abteil hatte es sich die Politprominenz zwar gemütlich gemacht, aber einen so recht freien Blick erhaschten weder Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber, noch Ingolstadts Oberbürgermeister Alfred Lehmann und Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee. Dazu Lehmann: "Die Wand aus Kameramännern und Fotografen war einfach zu dicht, um einen freien Blick nach draußen zu haben." Auf der Rückfahrt nach Ingolstadt nach der Feier konnte sich Lehmann dann aber an seinem Fensterplatz erfreuen. Auch er nannte die Ruhe der Fahrt des Zuges bei dieser hohen Geschwindigkeit als starken Eindruck. Die Chancen durch die ICE-Anbindung seien für Ingolstadt und die Region enorm, so das Ingolstädter Stadtoberhaupt. "Mit Infrastruktur und vor allem Verkehrsinfrastruktur können wir punkten und uns wirtschaftlich weiterentwickeln."
Ein kurzer Halt in Ingolstadt hatte Alfred Lehmann den Zustieg bei der Fahrt von München nach Nürnberg ermöglicht. Zuvor waren die beiden Jubiläumszüge nach der symbolischen Eröffnung der neuen Strecke durch den bayerischen Ministerpräsidenten und den Bundesverkehrsminister in München gestartet. Die Strecke zwischen München und Ingolstadt muss größtenteils noch ausgebaut werden, so dass dort bisher "nur" Geschwindigkeiten von bis zu 200 Stundenkilometern möglich sind.
Die Stewards mussten sich beeilen mit dem Servieren des Kaffees zwischen Ingolstadt und Nürnberg. Nach exakt 30 Minuten und der Bewältigung von 89 Streckenkilometern fuhren die beiden ICE unter einem Feuerwerk im Nürnberger Hauptbahnhof ein. Mit von der Partie aus Neuburg: Stadtrat Fritz Goschenhofer. "Schon immer glaubte ich an die Notwendigkeit einer solchen schnellen Verkehrsanbindung für unsere Region." Gespannt war der Feldkirchener auf die Endgeschwindigkeit. Ich bin noch nie mit 300 Stundenkilometern unterwegs gewesen", gestand er und zeigte auf seine Kaffeetasse. "Da schwappt nichts über, die Oberfläche kräuselt sich nicht einmal richtig."
Eine aufwändige Bauweise macht die Geschwindigkeit um die 300 möglich. Insgesamt 82 Brücken sowie neun Tunnel mit einer Gesamtlänge von 27 Kilometern tragen dazu bei, dass die Züge mit Geschwindigkeiten unterwegs sein werden, die bisher in Deutschland nur auf der Bahnstrecke zwischen Frankfurt und Köln erreicht werden.
Für die beiden Piloten des überlangen ICE war es eine ganz normale Fahrt und ein ganz besonderer Tag zugleich. Ausnahmsweise war der Zug mit zwei Triebwagenführern so die offizielle Berufsbezeichnung der Lokführer bei der Deutschen Bahn besetzt. Zur besseren Koordination der Formationsfahrt, wie Reinhard Schmidbauer erklärte, der den überlangen ICE steuerte, während sein Kollege Harald Metz die Formationsfahrt mit dem Schwesterzug absolvierte. Lampenfieber hatte Schmidbauer nicht, trotz der prominenten Fracht direkt hinter der Glaswand seines Cockpits. "An Hochgeschwindigkeiten bin ich gewöhnt und daran, dass mir über die Schulter geschaut wird, auch." Auf die Formationsfahrt aber freute sich auch der alte Lokführer-Haudegen, der immerhin seit 1974 bei der Deutschen Bahn arbeitet, seit 1978 Loks führt und seit 1991 ICE-Triebwagenführer ist. Die Parallelfahrt war auch für ihn etwas Neues.
Ausgiebig gefeiert wurde am Nürnberger Hauptbahnhof. Rund 400 Gäste waren dafür nach Nürnberg gekommen, die meisten mit dem ICE aus München über Ingolstadt. Die Achse München-Ingolstadt-Nürnberg wird mit Hilfe der neuen ICE-Trasse ordentlich verkürzt. Brauchte früher ein Personenzug von Ingolstadt nach Nürnberg über eine Stunde, so vermindert sich die Fahrzeit mit dem ICE um über die Hälfte auf 30 Minuten. Den SPD-Abgeordneten Achim Werner freute die Zeitersparnis besonders auf der Rückfahrt nach Ingolstadt. "So kann ich noch beim Spiel des FC Ingolstadt vorbeischauen."
 
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