Anfeindungen, Angriffe: Kreisklasse und Co. gehen die Schiedsrichter aus
Auf dem Platz heißen sie schon mal „Blinder“ oder „Du Sau!“. Schiedsrichter müssen sich heute einiges gefallen lassen. Im Allgäu hat das nun Folgen für den Spielbetrieb.
Wenn es stimmt, dass man ein Spielfeld als moralischer Sieger verlassen kann, dann hat das Christian Erhart soeben getan. Der 14-jährige Schüler hat allen Versuchungen widerstanden. Er ist nicht ausgerastet, als Spieler über seine Leistung schimpften. Und er ließ sich nicht entmutigen, als zwei Köpfe größere Trainer mit fuchtelnden Armen seine Kompetenz anzweifelten: „Herrschaft, Schiri, des kann’s doch ned sein?!“
Christian Erhart hat ein dickes Fell, sonst stünde er jetzt längst nicht mehr hier auf dem Fußballplatz in Krugzell im Oberallgäu an einem schönen Herbsttag, an dem sich die Mehrzahl seiner Altersgenossen weitaus Cooleres vorstellen kann, als ein Spiel der C-Junioren-Kreisklasse zwischen dem TSV Dietmannsried und der JFG Illerwinkel (4:1) zu pfeifen. „Manchmal kommt man sich schon vor wie der Depp. Vor allem wegen der Trainer. Die machen lieber den Schiri verantwortlich als die eigenen Spieler. Aber Angst hab ich vor denen nicht. Zur Not kann ich den Ordnungsdienst rufen und den Trainer aus dem Stadion bringen lassen. Einmal stand ich schon kurz davor“, sagt der Neuntklässler an der Wirtschaftsschule in Kempten.
Seit dem Frühjahr ist der Torhüter der C-Junioren des TSV Sulzberg auch als Schiedsrichter im Jugendbereich aktiv. Für die Schiedsrichtergruppe Kempten/Oberallgäu ist er „ein Glücksfall“, sagt Ehrenobmann Siegfried Irl, 62. Denn: Es wird immer schwieriger, junge Referees zu gewinnen.
Jetzt muss der Heimatverein den Unparteiischen stellen
So hat sich der Allgäuer Kreisspielleiter Franz Schmid aus Oberostendorf vor Kurzem mit einem dramatischen Appell an die Öffentlichkeit gewandt. Es herrsche „Alarmstufe Rot“, sagte Schmid auf einer eilig einberufenen Krisensitzung von Spielleitern und Schiedsrichter-Obleuten im Ostallgäu. Weil für bis zu 18 Spiele pro Wochenende keine Referees gefunden werden konnten, wurde nach langer Diskussion beschlossen, die nicht aufstiegsberechtigten Reserverunden (Kreisklasse, A-Klasse 1, B-Klasse 2) im Allgäu generell nicht mehr mit Verbandsschiedsrichtern zu besetzen. Gleiches gilt für die niedrigsten Gruppen im Jugendbereich.
Für diese Spiele müssen die Heimatvereine nun Unparteiische stellen. Dadurch soll gewährleistet sein, dass zumindest die höherklassigen Ligen von den wenigen verbleibenden Schiris geleitet werden. Ein Ende des Engpasses ist freilich nicht in Sicht. Von 15 im vergangenen Jahr ausgebildeten Schiedsrichtern im Ostallgäu seien fast alle wieder abgesprungen. „Viele haben Angst“, mutmaßt Christian Erhart über die Beweggründe. Angst vor Beschimpfungen von überdrehten Spielern, Eltern und Trainern. Angst vor Kontrollverlust.
Ein Sittenverfall, der fassungslos macht
Dass Schiedsrichter hitzige Momente erleben, ist nicht neu. „Doch was heute auf den Plätzen abgeht, hätte es früher nicht gegeben. Vor allem die Neulinge bekommen das gnadenlos zu spüren“, sagt Irl. Der frühere Bundeswehrsoldat ist seit über 25 Jahren Schiedsrichter. Den drahtigen Senior mit dem grauen Schnauzer wirft so schnell nichts aus der Bahn. Doch selbst er ist mitunter fassungslos über den Sittenverfall auf den Fußballplätzen der Region. Als er kürzlich bei einem Schulturnier pfiff, wurde er Zeuge, wie ein Jugendlicher auf dem Spielfeld sein Missfallen über die Anweisungen seines Lehrers kundtat. Er rief: „Halt doch dein blödes Maul.“
Schiedsrichter, sagt Irl, bekämen oft noch schlimmere Beleidigungen zu hören. Es bleibt nicht immer bei verbalen Attacken. So wurde Ende August ein Unparteiischer in einer Kreisklassen-Partie zwischen dem FC Oberstdorf und dem TV Weitnau von einem wutentbrannten Oberstdorfer Spieler kurzerhand zu Boden gestoßen. Noch schlimmer traf es einen Kollegen in Oberbayern. Der ehrenamtliche Spielleiter wurde beim A-Klassen-Spiel zwischen FC Iliria und ESV Rosenheim von einem Iliria-Spieler nach Ende der Partie bewusstlos geschlagen und musste in einer Augenklinik operiert werden. Nach Angaben der Polizei, die eine weitere Eskalation verhinderte, muss er wohl bleibende Schäden befürchten.
Schlechte Vorbilder in der Bundesliga
Schiedsrichter als Prügelknaben der Nation: Schon vor einem Jahr haben die Berliner Referees nach Übergriffen auf Amateurplätzen mit einer Protestaktion für Aufsehen gesorgt. Unter dem Motto „Zeit zum Nachdenken. Kein Platz für Gewalt“ wurden alle Spiele von der Berlin-Liga bis zur Kreisklasse für fünf Minuten unterbrochen. Ein generelles Umdenken blieb freilich aus – auch bei den Profis.
Anders ist es kaum zu erklären, dass im September Meistertrainer Jürgen Klopp in der Bundesliga-Partie zwischen Eintracht Frankfurt und Borussia Dortmund (3:3) den vierten Offiziellen anbrüllte und – mal wieder – auf die Tribüne verwiesen wurde. Selbst „Gentleman“ Ottmar Hitzfeld ließ sich jüngst zu einer wenig vorbildhaften Geste hinreißen. Der 63-jährige Trainer der Schweizer Nationalmannschaft zeigte im WM-Qualifikationsspiel gegen Norwegen (1:1) den Mittelfinger – in Richtung des spanischen Schiedsrichters.
Zwar zeigten beide Trainer später Reue, doch die nächsten Wutausbrüche sind programmiert. Davon ist jedenfalls Hermann Albrecht, 52, überzeugt. Der frühere Bundesliga-Referee aus Kaufbeuren sagt: Dass es immer mehr Entgleisungen gibt, liegt an der Emotionalisierung des Spiels. „Schiri-Beschimpfung ist heute Teil der Show. Wegen jedem Hennenfurz geht eine Rakete ab. Das ist voll neben der Kappe.“ Statt Vorbild zu sein, lieferten die Profis haufenweise schlechte Beispiele. Und fänden in den Amateurklassen entsprechend Nachahmer.
Jeder Fehler wird gnadenlos bestraft
Nun ist es sicher nicht so, dass jeder anständige Fußballer oder Trainer – und die gibt es nach wie vor – nach dem Sportschau-Gucken zum Pulverfass mutiert. Ebenso wenig liefern Schiedsrichter in jedem Spiel Glanzleistungen ab. Doch während Spielern gewisse Ausfallerscheinungen durchaus zugestanden werden („Hatte einen schlechten Tag“), werden von Referees quasi übermenschliche, weil makellose Leistungen erwartet – von der Bundesliga bis zur untersten Spielklasse. Es gibt nicht wenige Pfeifenmänner im Amateurbereich, vor allem unerfahrene, die an diesen Erwartungen zerbrechen. Ein zögerlicher oder gar verängstigter „Schiri“ fühlt sich wie Freiwild, umgeben von Wölfen. Nicht von ungefähr gibt es den Begriff der „Rudelbildung“, der eine Ansammlung emotional aufgewühlter Spieler beschreibt.
Auffallend ist zudem, dass selbst grobe Verfehlungen nach Spielschluss kleingeredet werden. Klopp beispielsweise sagte auf einer Pressekonferenz nach seinem Wutausbruch mit süffisantem Grinsen: „Wenn man sich für ein Gesicht entschuldigen muss, dann tue ich das hiermit.“ Muss!
So ähnlich schallt es durch die ganze Republik. „Wir spielen Fußball und nicht Hallenhalma“, heißt es dann. Dem würde prinzipiell wohl niemand widersprechen. Andererseits wären beide Spiele ohne Regeln nicht möglich – wie überhaupt jegliche Form des Zusammenlebens. Freiheit haben bedeutet ja nicht automatisch, sich jede Frechheit zu erlauben.
Schiedsrichter machen gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich
„Bei vielen Fußballern merkt man heutzutage, dass sie nicht richtig erzogen wurden oder werden“, sagt Ehrenobmann Irl. Es sei schon vorgekommen, dass Schiedsrichter in Jugend-Spielklassen unverrichteter Dinge die Heimreise antreten mussten. Nach Hause geschickt von einem überforderten Jugendtrainer, dem nicht genügend Spieler zur Verfügung standen. Begründung: „Meine Jungs haben gestern Nacht zu lange gefeiert.“ Ein ebenfalls „neues“ Phänomen ist, dass sich Schiedsrichter mit Schelte und Beleidigungen im Internet konfrontiert sehen. „Ein Schiri, der am Montag seinen Namen googelt, tut sich keinen Gefallen“, sagt Albrecht. Der ehemalige Top-Schiedsrichter ist entsetzt: „Was auf den Fußballplätzen abgeht, ist der gesellschaftlichen Entwicklung geschuldet. Gewisse Autoritäten werden heute nicht mehr akzeptiert.“
Kurioserweise versuchen die Schiedsrichter inzwischen Kandidaten zu rekrutieren, die selbst mit Recht und Ordnung im Konflikt standen. So hat allein die Schiedsrichtergruppe Kempten/Oberallgäu bislang knapp 20 Häftlinge der Justizvollzugsanstalt Kempten zu Referees ausgebildet. Siegfried Irl gehört zu den Befürwortern solcher Kurse. Er ist fest davon überzeugt, dass die „Schiedsrichterei“ den Charakter schult: „Man muss zuverlässig sein, sich fit halten und fortbilden. Außerdem macht es Spaß, sofern es auf dem Platz fair zugeht.“
Was tun gegen diese Aggressivität?
Eine Statistik darüber, wie viele ehemalige Häftlinge heute als Schiedsrichter aktiv sind, gibt es nicht. Doch Irl kann sich zumindest an eine Begegnung mit einem früheren Kursteilnehmer erinnern. Der junge Mann, der wegen Drogendelikten und Beschaffungskriminalität einsaß, spielt seit seiner Entlassung bei einem unterklassigen Verein. Zufällig wurde Irl als Schiedsrichter für dessen neue Mannschaft eingeteilt. Der ehemalige Häftling sei ziemlich aggressiv in die Zweitkämpfe gegangen, erinnert er sich. „Doch zu den schlimmsten Störenfrieden auf dem Platz gehörte er nicht.“
Für die Schiedsrichter stellen sich so betrachtet zwei Fragen. Wie können sie der zunehmenden Aggressivität Herr werden? Und: Wie gelingt es, vor dem Hintergrund zunehmender Aggressivität neue Schiedsrichter zu gewinnen? Jungschiedsrichter Christian Erhart hat da seine eigenen Vorstellungen. Er sagt: „Die am lautesten schreien, sollten dazu verdonnert werden, selbst mal Schiedsrichter zu machen. Dann wäre ganz schnell Ruhe.“
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