Wie gefährlich wird China?
Henry Kissinger analysiert eine der bestimmenden Mächte im 21. Jahrhundert
Augsburg Er ist in Deutschland geboren, 1923, floh mit seiner Familie als jüdisches Kind 1938 in die USA und erlebte eine beispiellose politische Karriere. Henry Kissinger hat die Weltpolitik geprägt. Der Ex–US-Außenminister handelte das Ende des Vietnam-Kriegs aus und vermittelte im Nahen Osten. Jetzt hat der Politikwissenschaftler ein Buch vorgelegt, dessen Thema so schlicht wie allumfassend ist: China. Rund 50 Mal hat er das Land besucht und kennt es wie wenige andere.
Kissingers Buch kommt zu einer guten Zeit. Denn seltsamerweise rückt in der Euro-Krise auch China in den Fokus. Da ist zum Beispiel die Hoffnung, das Land könnte seine Devisenreserven in Staatsanleihen der EU-Krisenländer investieren. Aber wäre das eine gute oder schlechte Nachricht? Diktiert China der Welt bald die Regeln?
Kissinger unternimmt eine Expeditionsfahrt durch 4000 Jahre chinesischer Geschichte. Chinas Verhalten, sagt er, lässt sich nur aus seiner Kultur erklären. China sei ein stolzes Land, das im 2. Jahrtausend v. Chr. seine Schrift entwickelte, ein Land, das sich allein aufgrund seiner Größe als „Zentrum der Welt“ gesehen hatte und isoliert lebte: Man genügte sich selbst. Westliche Länder erschienen von „Barbaren“ bevölkert, die Nachbarstaaten zollten dem Kaiser Tribut. Fremden Staaten zwang man die Kultur nicht auf; sie nahmen die Errungenschaften freiwillig an.
China hatte stets nur eine Schwäche: an seinen unkontrollierbar weiten Grenzen angegriffen zu werden. Nichts scheute es mehr als die Einkreisung. Das in Europa beliebte Schachspiel kenne nur den „totalen Sieg“, das chinesische Weiqi-Spiel setze auf „relativen Gewinn“: Man muss die Einschließung durch Steine des Gegners vermeiden. China hat stets versucht, durch Bündnisse und kleinere Angriffe die Rivalen an den Grenzen kleinzuhalten. Der Kommunist Mao mochte in den 50er und 60er Jahren einen Kulturbruch angestrebt haben, tatsächlich folgte er uralten chinesischen Mustern: Das Land schmiedete ein inoffizielles Bündnis mit den fernen USA, um den Nachbarn Sowjetunion zu bändigen. Es lässt sich aber von außen kaum beeinflussen – auch nicht beim Thema Menschenrechte. Aus westlicher Sicht kann das nicht gefallen; Kissinger nimmt es als Realität hin.
Kissingers Buch lebt von seinen Erinnerungen und Gesprächen mit Chinas Spitzenpolitikern, darunter mit Mao oder mit Deng Xiaoping, dem Staatschef der 80er Jahre, der das Fundament für Chinas heutigen Erfolg legte. Kissinger ist ganz Diplomat. Das Wohl der Völker hängt für ihn vom Geschick der Verhandlungsführer ab. Letztlich legt Kissinger eine Anleitung für die Weltordnung des 21. Jahrhunderts vor. Jenseits aller Ideologie haben für ihn die USA und China die „Pflicht, eine Tradition der Konsultation und des gegenseitigen Respekts zu etablieren“. Seine Vision ist eine Pazifische Gemeinschaft, die die USA, China und andere Länder umfasst.
Kissinger befürchtet keinen „Kampf der Kulturen“ wie Samuel Huntington. Für ihn zählt zwar die Macht, die ein Staat besitzt, aber er ist überzeugt, dass sie in stabile Bahnen gelenkt werden kann. Kritiker könnten einwerfen, er unterschätze die Bedeutung der Bevölkerung, die mit Twitter und Facebook in Arabien ganze Regime gestürzt hat.
Wie immer aber die Zukunft wird: Großmächte werden zusammenleben müssen. Und wie dies gelingen kann, dazu ist Kissingers Buch eine der besten Studien, die man seit Jahren gelesen hat.
Henry Kissinger (2011): China. Zwischen Tradition und Herausforderung. München: C. Bertelsmann. 606 Seiten, 26 Euro
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