Ganz nach der Natur
Eine exquisite Ausstellung der Staatlichen Graphischen Sammlung in München
München Der sitzende junge Mann, der einen Stift in der Hand und auf den Knien ein Skizzenbuch hält, sieht dem Betrachter mit forschender Miene geradewegs in die Augen. Man versteht: Was der abgebildete Künstler auf dieser Rötelzeichnung, die im Kreis des Annibale Carracci um 1600 entstand, in den Blick nimmt, das gibt er auf seinem Skizzenblatt nach der Natur wieder, nicht nach seiner Vorstellung.
Zeichnen nach der Natur: Das gehört zu den künstlerischen Tendenzen, die sich Ende des 16. Jahrhunderts in Rom Bahn brachen. Die 1593 am Tiber ins Leben gerufene „Accademia di San Luca“, die erste moderne Bildungsstätte ihrer Art, stand an der Spitze der Entwicklung. Kein Zufall, dass die Gründung der Akademie eine Reaktion auf einen päpstlichen Erlass war, darin der Niedergang der Künste beklagt wurde. Die katholische Kirche hatte im Zuge der Gegenreformation ein besonderes Auge auf die Künste geworfen. Ausgehend von den Beschlüssen des Trienter Konzils sollte für Katholiken das Bild als Träger der Heilsbotschaft fungieren, anders als bei den Protestanten, die dem Wort den Vorzug gaben.
Der Segen von höchster Stelle sorgte für ein Aufblühen der Künste gerade in Rom. Hier, bei so gebildeten wie solventen Kardinälen und Patriziern, mangelte es nicht an Aufträgen, und so strömten Künstler aus ganz Italien ebenso herbei wie aus dem Norden, aus Frankreich, den Niederlanden und aus Deutschland. Welche Blüten dieses Klima gerade in der Kunst der Zeichnung trieb, fängt bestrickend die Ausstellung „Zeichner in Rom 1550–1700“ ein, die Blätter aus dem Bestand der Staatlichen Graphischen Sammlung München in der Pinakothek der Moderne zeigt.
Raffael wirkt selbst in der Nacht
Für die Künstler, die nach Rom kamen, gab es aber nicht nur Mensch und Landschaft zu studieren, sondern auch die Kunst der Alten, die Meister der Antike wie der Renaissance. Eine lavierte Federzeichnung aus dem Kreis um Federico Zuccari macht eben dies zum Thema: Dargestellt ist Taddeo Zuccari, Federicos älterer Bruder, wie er in der „Loggia di Psiche“ in der Villa Farnesina die Deckenfresken Raffaels studiert und in sein Skizzenbuch kopiert. Durch einen Gewölbebogen fällt das Licht des Mondes auf den am Boden sitzenden Bewunderer – wie stark muss die Anziehungskraft gewesen sein, wenn Taddeo selbst bei Nacht die Werke des Meisters aus Urbino studierte! Mehrfach zeigt die Ausstellung solche Arbeiten über den Prozess des Zeichnens und Skizzierens. Das war nach dem Leben gestaltet, konnte also realistische Züge annehmen – wie eine weitere Rötelzeichnung aus dem so fruchtbaren Annibale-Carracci-Kreis, die nah heranrückt an einen schreibenden Knaben mit Kappe und höchst naturalistisch die Konzentration festhält, die der Dargestellte seiner Tätigkeit widmet.
Johann Heinrich Schönfeld und der Konstantinsbogen
Auch wenn ein Institut wie die „Accademia di San Luca“ die Themen Landschaft und Porträt beförderte – ein Künstler wie Ottavio Leoni war regelrecht spezialisiert auf das gezeichnete Bildnis (siehe Kasten) –, so war doch weiterhin die Darstellung von Glaubensinhalten ein zentrales Feld der Kunst. Das gegenreformatorische Programm, die Heilslehre sinnlich erfahrbar zu machen, maß gerade der Architektur herausragende Bedeutung zu. Wie bei Gemälden und Fresken haben auch im architektonischen Werkprozess Skizze und (Vor-)Zeichnung ihren Platz, und so wartet die Ausstellung unter anderem mit Entwürfen von Gian Lorenzo Bernini und Francesco Borromini auf – wobei ihnen im Falle Berninis die Schau gestohlen wird von zwei mit Kreide gezeichneten männlichen Aktfiguren und einem höchst lebendigen Selbstporträt des Künstlers (wobei es sich in allen drei Fällen um Bernini-Zuschreibungen handelt).
Zu jenen, die es nach Rom zog, gehörten nicht nur Künstler wie Adam Elsheimer, Nicholas Poussin oder Claude Lorrain, die sämtlich mit exquisiten Blättern in der Ausstellung vertreten sind, sondern auch der in Memmingen geborene, zuletzt in Augsburg wirkende Johann Heinrich Schönfeld. Im Besitz der Augsburger Kunstsammlungen ist sein Ölgemälde „Zeichner in römischen Ruinen“ – und eben diese nahm Schönfeld sich in einer Feder-/Pinsel-Zeichnung vor, die den grasüberwucherten Konstantinsbogen in starker Verkürzung zeigt, halb verdeckt von einem schlichten Wohnhaus. Der starke Kontrast der beiden Baukörper hebt auch die leer gewordene Funktion des antiken Triumphbogens hervor; Schönfeld zielt hier nicht auf den ideellen Sinn des Baus, sondern auf Realität – künstlerisch eben ganz nach dem Leben, nach der Natur geschaut.
Bis 13. Mai in der Pinakothek der Moderne, Di.–So. 10 bis 18, Mi. bis 20 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Bestandskatalog erschienen (Deutscher Kunstverlag), der im Museumsshop 36 Euro kostet.
Die Diskussion ist geschlossen.