Das Tischtuch zwischen EU und Großbritannien ist zerschnitten
Der Brite David Cameron verlässt Brüssel als Verlierer. Die 27 anderen Staatenlenker zeigen, dass sie auf den Brexit besser vorbereitet sind als er. Doch es kommt auch Wehmut auf.
Beim Anblick David Camerons fühlt man sich für einen Moment an Wayne Rooney erinnert, den Kapitän der englischen Fußball-Nationalmannschaft, wie er nach dem verlorenen Spiel gegen Island das Spielfeld wie ein geprügelter Hund verlässt. Der britische Premier, der sich sonst stets so zackig und fast schon militärisch akkurat wie der Lordsiegel-Bewahrer des Empires gab, verlässt in dieser Nacht zum Mittwoch das Ratsgebäude als Loser, als Verlierer, besteigt wortlos die schwarze Limousine mit den Sicherheitsbeamten und fährt davon. Es ist das Ende eines schwierigen Abends, an dem der Regierungschef zigmal Sorry sagt. „Es tut mir leid“, weil er das Referendum verloren hat, weil er mit seiner Wette darauf, dass er die Volksabstimmung gewinnen könne, Europa in eine tiefe Krise stürzte.
Kurz vor 21 Uhr hatte am Dienstag im monumentalen Ratsgebäude so etwas wie der Leichenschmaus eines europäischen Traums begonnen. Es sei ernsthaft und kameradschaftlich zugegangen, wird Bundeskanzlerin Angela Merkel einige Stunden später sagen. Das trifft es wohl nicht ganz. Während die Küche Salat mit Wachteln, Kalbsfilets und Erdbeeren serviert, wird es in dem nüchternen Raum „außergewöhnlich emotional“, berichten Teilnehmer hinterher. Der estnische Ministerpräsident habe daran erinnert, wie die britische Marine vor 100 Jahren half, die Unabhängigkeit des Landes zu schützen. Sein tschechischer Kollege denkt daran zurück, wie seine Landsleute 1948 und 1968 in Großbritannien Schutz vor politischer Verfolgung fanden. Frankreichs Staatspräsident François Hollande erzählt, dass er noch diese Woche die Schlachtfelder an der Somme besuchen werde, wo „britische und französische Soldaten für die Freiheit unseres Kontinents, die Demokratie und unsere Werte gemeinsam starben und kämpften“. Cameron sei tief bewegt gewesen. „Ich wünschte, die Menschen zu Hause hätten einige unserer Gespräche heute Abend hören können“, meinte der Mann aus London.
Brexit: Kommissionspräsident Juncker ist verärgert über die britische Regierung
Doch diese Besinnlichkeit bleibt nicht. Zwar betont die Kanzlerin wenig später, Groll und Ärger seien keine Kategorien politischen Handelns. Deshalb sei sie auch nicht sauer auf Cameron. Aber es ist ein anderer, der das an diesem Abend ausdrückt: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erinnert daran, dass Cameron seine europäischen Kollegen für den Wahlkampf ausgeladen hatte, dass er vor lauter Siegessicherheit von Brüssel nichts habe wissen wollen. „Wenn man den Menschen jeden Tag von morgens bis abends erzählt, dass Brüssel von der EU-Kommission, Bürokraten, Technokraten oder nichtgewählten Leuten befehligt wird, muss man wissen, zu welchem Ergebnis das führt.“
Was bleibt? Juncker: „Die Freundschaft wird andauern.“ Aber sie ist das Einzige, was bleiben wird. Denn das ist die andere Seite dieses Abends, die Cameron, wie es intern heißt, regelrecht konsterniert habe. Die Staats- und Regierungschefs der Union präsentieren sich nämlich als geschlossene Front, die offenbar deutlich besser auf den Brexit vorbereitet ist als die britische Regierung. „Ich sehe keinen Weg, wieder umzukehren und das Referendum wieder einzukassieren“, sagt die Bundeskanzlerin.
„Was ich nicht verstehe, ist, dass diejenigen, die raus (aus der EU) wollen, nicht im Geringsten in der Lage sind, uns zu sagen, was sie wollen“, ärgert sich Juncker. Und der französische Präsident kommt sogar direkt zur Sache. Falls Großbritannien bei den nun anstehenden Scheidungsverhandlungen glaube, man könne sich aus den vier europäischen Grundfreiheiten (freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitnehmern) ein paar aussuchen, irre sich London gewaltig. „Es sind vier Freiheiten oder keine.“
Nach Brexit wird es kein "Rosinenpicken" geben
Deutlicher als die Brexit-Befürworter dies wohl erwartet haben, beschließen die Staatenlenker der 27 Staaten, es werde keine Vorgespräche geben, ehe nicht offiziell der Austritt nach Artikel 50 eingereicht wurde. Völliges Unverständnis gab es im Gipfelkreis vor allem darüber, dass sich weder die Brexit-Befürworter in Großbritannien noch die amtierende Regierung irgendwelche Gedanken darüber gemacht hätten, wie sie sich das zukünftige Verhältnis zur EU vorstellen. Dass es kein „Rosinenpicken“ geben soll, wurde auch in dieser Nacht immer und immer wieder betont. Die Modelle, die die Schweiz und Norwegen für sich mit der EU ausgehandelt haben, funktionieren für das Vereinigte Königreich nicht, heißt es. „Sagen Sie uns doch endlich, was Sie eigentlich wollen“, habe ein Regierungschef zu später Stunde Cameron angegangen, berichteten Teilnehmer. Doch der habe nicht geantwortet – „und angesichts seiner Rücktrittsankündigung hätte seine Antwort uns auch nicht weitergeholfen“.
Was nun folgt, wird immer klarer: Im September rechnet man in Brüssel mit den Scheidungspapieren. Im gleichen Monat treffen sich die 27 zu einem Sondergipfel in Bratislava, um über die weitere Zukunft der Union zu sprechen – ohne einen Vertreter Londons. Wie schnell die neue europäische Wirklichkeit Brüssel eingeholt hat, zeigte ein kleiner Vorgang am Rande. Als die Gipfel-Teilnehmer am frühen Mittag das Ratsgebäude verließen, fuhr auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein anderer Gast vor: Nicola Sturgeon, die schottische Regierungschefin. Sie kam zum Gespräch mit Parlamentspräsident Martin Schulz. Der Grund ihres Besuches: Sie möchte nach einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum so schnell wie möglich zum Kern der neuen Europäischen Union gehören. Die Geschichte Europas geht weiter.
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