Winfried Kretschmann: Daheim im Grünen
Winfried Kretschmann wird für vieles geschätzt. Auch für seine Bodenständigkeit. Und: Er singt mit sonorem Bass, isst Laugenweckle und war Jahre nicht mehr im Schützenverein in Sigmaringen.
GLÜCKWUNSCH. Ganz sauber, sehr gerade, wie mit dem Lineal gezogen, stehen die großen weißen Buchstaben auf dem Teer. Es ist kein unlesbares Gekritzel, kein Graffiti, wie es in Großstädten der Fall sein würde. Die mit Kreide geschriebene Gratulation ist auf der Dorfstraße in Laiz, einem vorgelagerten Ortsteil der Kreisstadt Sigmaringen, zu lesen. Ein Unbekannter hat sie in der Nacht von Sonntag auf Montag dorthin geschrieben.
Hier im 3000-Seelen-Ort ist Baden-Württembergs designierter Ministerpräsident Winfried Kretschmann zu Hause. Vor seinem Haus, einem ehemaligen Bauernhof, blühen schon die Forsythien. Ein Besen lehnt an der Wand. Am Hausdach hängen Solarzellen. Ein Landleben. Eineinhalb Fahrstunden mit dem Auto sind es nach Stuttgart, fast zwei sind es nach Ulm. Hier ist Württemberg so, wie man es sich klischeehaft vorstellt, ja wie es sich selbst anpreist: „Wir können alles außer Hochdeutsch.“ Es ist eine Spurensuche nach Kretschmanns im Wahlkampf oft gepriesener „Bodenhaftung“.
Viele Orte im Hohenzollernland enden mit „ingen“, und die Menschen sprechen einen breiten, für Außenstehende nur schwer verständlichen Dialekt. Sie wirken neugierig und herzlich und scheinen von einer großen Geschäftigkeit zu sein. Lkw-Kolonnen auf der nahe gelegenen Bundesstraße zeugen von wirtschaftlicher Kraft, gepflegte Einfamilienhäuser und Autos vor den Garagen von bürgerlichem Wohlstand. Die Äcker sind gewalzt, die Wiesen gepflegt und die Dörfer rundum glänzen im Dunst des beginnenden Frühjahrs.
Das Leben ist so normal
Nichts außer dem großlettrigen GLÜCKWUNSCH deutet in Laiz, das in Sichtweite des prächtigen Hohenzollern-Schlosses Sigmaringen liegt, noch auf die Wahl am vergangenen Sonntag hin. Es hängen auch keine Plakate mehr. Das Leben ist so normal, wie es nach einer politischen Revolution im Südwesten nur sein kann.
Um die Mittagszeit rollt ein grünmetallicfarbener Daimler, so nennt man den Mercedes in Württemberg, vor einen sorgfältig renovierten ehemaligen Bauernhof im Ortskern. Drin sitzt eine dunkelhaarige Frau mit Sonnenbrille. Die Garagentür geht auf. Die Frau bleibt noch ein wenig im Wagen sitzen. Sie hört Radio. In den Mittagsnachrichten wird über den vorläufigen Baustopp berichtet, den die Bahn für Stuttgart 21 erlassen hat. Dann steigt sie aus. Gerlinde Kretschmann ist die Frau des Wahlsiegers, des vielleicht wichtigsten Grünen seit Joschka Fischer. Sie kommt gerade aus einer nahe gelegenen Grundschule, wo sie als Lehrerin arbeitet.
Ein wenig misstrauisch beäugt sie zunächst das fremde Gesicht. Sie lässt sich dann aber ohne spürbare Vorbehalte auf ein Gespräch ein. Rundum ist nirgendwo Polizei zu sehen. Keine Fernsehkameras, keine Leibwächter, keine Hubschrauber – die große Politik und ihre Nebenwirkungen scheinen bei Kretschmanns daheim noch nicht angekommen zu sein. Ob sie denn künftig mehr Rummel erwarte? „Schon möglich“, antwortet die 63-Jährige, die künftige Landesmutter. Die ersten Auswirkungen der Wahl hat sie schon zu spüren bekommen. „Nur einmal, gestern Abend, war mein Mann zu Hause“, erzählt sie und ahnt, dass nichts mehr so sein wird, wie es war. Und doch macht sie schon mal deutlich: „Wir werden dieselben wie vorher bleiben, das steht fest.“
Schüler gratulieren ihrer Lehrerin
Nun haben schon viele Politiker-Ehefrauen ähnliche Einschätzungen von sich gegeben. Oft kam es anders. Doch der Lehrerin, die in Laiz geboren wurde, als das Haus noch ein Bauernhof war, nimmt man es ab. Eine junge Frau mit zwei Kindern kommt vorbei. „Hallo, Frau Kretschmann, alles Gute!“, ruft sie fröhlich. Auch drei des Weges laufende Schüler strecken ihr die Hand entgegen und gratulieren. Gerlinde Kretschmann zieht einen von ihnen zu sich her und drückt ihn. „Das ist Jan, der war mein Sohn.“ Wie bitte? „Wir haben beide vergangenes Jahr in unserem örtlichen Historienspiel mitgespielt“, klärt sie, die im wahren Leben dreifache Mutter ist, die kurzzeitige Verwirrung auf.
Die Lehrerin ist im Ort tief verwurzelt. Das heutige Heim ist ihr Elternhaus. In Laiz ist sie gesellschaftlich aktiv. Unter anderem war sie 15 Jahre lang als Kommunalpolitikerin im CDU-dominierten Gemeinderat von Sigmaringen aktiv, zuletzt als Fraktionsvorsitzende der Grünen.
In den Wochen vor der Wahl ist viel geschrieben worden über ihren Mann, den Grünen-Politiker. Über seine Bodenständigkeit, über seine solide, Vertrauen spendende Art, über seinen gelebten Konservativismus, über die Ernsthaftigkeit, mit der er Politik betreibt. Wer in dem beschaulichen Örtchen Laiz auf seine Frau trifft, dem wird klar, warum Kretschmann der Angstgegner der CDU in Baden-Württemberg war und großteils dafür verantwortlich ist, dass sie nun nach über sechzig Jahren erstmals nicht mehr regieren kann. Der Mann wird nicht nur als bodenständig vermarktet. Er scheint es auch zu sein.
Vielleicht war es seine Frau, die Winfried Kretschmann einst die kommunistischen und maoistischen Flausen austrieb, mit denen er sich noch während seiner Studienzeit beschäftigte. Die Frage bleibt ungestellt. Fest steht, dass aber auch Kretschmann selbst in seiner Heimatgemeinde kein verschrobener Öko war und ist.
Einmal, das ist belegt, wurde er sogar Schützenkönig. Das ist allerdings lange her. „Bei uns hat er sich seit Jahren nicht mehr sehen lassen“, erzählt Oberschützenmeister Ralf Kruse. Wahrscheinlich habe er keine Zeit mehr. Kruse, ein bekennender CDU-Wähler, ist auch der Meinung, dass grüne Parteiprogrammatik und das Schützenwesen eigentlich nicht zusammenpassen. „Er müsste sich bei uns sicherlich einige kritische Fragen gefallen lassen.“ Nichtsdestotrotz respektiert Kruse den Grünen-Politiker: „Der ist schon ein Guter.“
Sonorer Bass im Kirchenchor
Im Kirchenchor, wo Kretschmann seit über zehn Jahren Mitglied ist, droht ihm kein politischer Diskurs. Hier sang er mit sonorem Bass. Irgendwann haben die vielen Termine es nicht mehr zugelassen, zu den Proben hierher zu fahren. Die frühere Chorleiterin Frieda Krug lobt ihn trotzdem: „Er hat eine sichere Stimme.“ Bei den anstehenden Karfreitags- und Ostergesängen werde Kretschmann aber definitiv nicht dabei sein.
Egal wen man in Laiz zu Kretschmann befragt: Alle berichten nur Gutes über ihn. So viel Zustimmung wirkt schon fast wieder unheimlich. Selbst die Bäckereiverkäuferin, die im nahe gelegenen Bingen in der Nachbarschaft von Noch-Umweltministerin Tanja Gönner (CDU) wohnt, weiß keinen Tratsch über „Moses aus Sigmaringen“, wie die Zeit kürzlich ein Porträt über Kretschmann titelte. Er mag gerne Laugenweckle, sagt sie. Nett und höflich sei er. Und sie staunt: „Bis zum Sonntag hätte ich mir eine grün-rote Regierung bei uns im Ländle beim besten Willen nicht vorstellen können. Jetzt haben wir sie.“ Dann schüttelt sie lachend den Kopf und vermutet: „Aber ’s Leben wird weitergehen.“ Der künftigen Regierung wünscht sie „viel Glück“. Gerlinde Kretschmann drückt ihrem Mann natürlich auch die Daumen. „Ich habe seine Arbeit immer unterstützt“, sagt sie. Und auf welche Art? „Ich versuche, ihn bei uns zu Hause auf einer persönlichen Ebene zu stärken.“ Gewählte Worte für eine so bodenständige Frau. Manchmal geschieht das auf ganz einfache Art und Weise. Montagnacht, als er zum ersten Mal nach der Wahl wieder für ein paar Stunden daheim war, hat sie für ihn Suppe gekocht. „Er hat schließlich den ganzen Tag nichts gegessen.“ Gemeinsam mit Sohn Johannes ließen sie dann den Erfolg kurz Revue passieren. „Das war schön.“ Ein wenig sorgt sie sich um die Gesundheit ihres Mannes: „Politiker leben ja so ungesund.“
Frau Kretschmann ist sich im Klaren, dass man Opfer bringen muss, wenn man sich ins Getriebe der überregionalen Politik begibt. Wie es genau weitergehen wird, weiß sie noch nicht. In der Rolle als Mutter für ihre drei Kinder, Hüterin des Hauses und Lehrerin hat sie sich bisher wohlgefühlt. Darauf ist sie auch ein wenig stolz und weist darauf hin, dass die Frauen der anderen Politiker nicht im Berufsleben stehen. Was nun auf sie zukommt, will sie mit der ihr eigenen Gelassenheit aufnehmen. Nach diesem Schuljahr wird sie pensioniert.
Dass sie eine glamouröse First Lady wird, ist nicht zu erwarten. Scheinwerferlicht und überhaupt alles künstliche Tamtam liegen ihr nicht. Sie, eine Frau, die die Natur so mag, die Schwäbische Alb, ihre Heimat, die Freunde in Laiz, wirkt nicht so, als würde sie sich nach dem großstädtischen Stuttgart sehnen.
Ob die Familie in die Landeshauptstadt ziehen werde? Gerlinde Kretschmann denkt kurz nach. Dann lächelt sie. „Darüber haben wir noch nicht geredet“, sagt sie zunächst etwas ausweichend. So offen will sie die Aussage dann allerdings nicht stehen lassen. „Unser Haus ist doch schön!“, fügt sie hinzu und zeigt mit dem Finger darauf. Es klingt, als hätte sie sich schon entschieden.
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