Manuel Neuer über EM 2016: "Favorit würde ich nicht sagen"
Nationaltorhüter Manuel Neuer über die deutschen Aussichten bei der EM in Frankreich, seine Verehrung für den Bundestrainer und die Kinderschokoladen-Affäre.
Im Vormittagstraining hat Manuel Neuer noch beeindruckt mit seiner Ballfertigkeit. Für einen Torwart besitzt der 30-Jährige eine außergewöhnliche Technik. Nach dem Duschen kommt der Keeper des FC Bayern zum Interview in den Garten eines Hotels in Ascona. Von den Strapazen der anstrengenden Saison kann er sich am Wochenende etwas erholen: Für das Testspiel in Augsburg am Sonntag gegen die Slowakei ist Bernd Leno gesetzt, Neuer darf in Ascona bleiben.
Herr Neuer, Weltmeister, Champions-League-Sieger, deutscher Meister, Pokalsieger, wird Ihnen nicht schwindelig ob der vielen Erfolge?
Manuel Neuer: Mein Motto ist immer, egal ob mir etwas Positives oder Negatives passiert ist: Es geht bei null weiter. Das habe ich verinnerlicht. Selbst wenn ich ein Gegentor bekomme und wir zurückliegen, sage ich mir: Ich kann es nicht rückgängig machen, also schaue ich einfach nach vorne. Ich bin generell keiner, der sich lange mit Vergangenem aufhält. Man darf sich auf einem Weltmeistertitel nicht ausruhen. Wir konzentrieren uns auf eine neue Aufgabe, eine neue große Herausforderung: Wir wollen Europameister werden.
Das ist das erklärte Ziel? Die DFB-Elf gilt bei der anstehenden EM als der Favorit…
Neuer: Nein, Favorit würde ich nicht sagen, aber Mitfavorit.
Wie sehr sind Sie als Torwart in die taktischen Überlegungen des Spiels einbezogen?
Neuer: Es ist richtig, dass wir auch schauen müssen, was der Gegner macht. Wenn wir ständig in der gegnerischen Hälfte spielen, bleibe ich nicht im Fünfer stehen und warte ab, was da vorne passiert. Ich passe mein Spiel an, halte den richtigen Abstand zu meinen Vorderleuten. Ich dirigiere und helfe, das Stellungsspiel der Abwehr zu verbessern. Das sind oft Kleinigkeiten mit großer Wirkung.
Vor zehn Jahren wurde Joachim Löw Bundestrainer. Was zeichnet ihn aus?
Neuer: Er ist immer mit der Zeit gegangen. So wie sich das Spiel verändert hat, so hat sich auch Jogi Löw kontinuierlich entwickelt. Er ist ständig offen für Neues, orientiert sich international. Es gibt viele Trainer, die haben ihren Spielstil und basta. Der Bundestrainer dagegen entwickelt den Fußball permanent.
Beim FC Bayern haben Sie kürzlich Ihren Vertrag bis 2021 verlängert. Ist der Klub für Sie als Schalker Junge mittlerweile eine Herzensangelegenheit oder hält Sie hauptsächlich die Aussicht auf Erfolge?
Neuer: Klar steht der FC Bayern für Erfolg. Aber den Verein zeichnen auch das Umfeld aus, die professionellen Mitarbeiter und die richtigen Leute in der Führung. Dazu haben wir eine tolle Mannschaft, in der es richtig Spaß macht, Fußball zu spielen. Es ist auch schön, in München zu leben. Das Gesamtpaket passt.
Mit Ihrer Stiftung „Manuel Neuer Kids Foundation“ setzen Sie sich seit Jahren für benachteiligte Kinder ein. Woher rührt der Antrieb?
Neuer: Ich habe vor Jahren erfahren, dass im Ruhrgebiet jedes dritte Kind sozial benachteiligt ist. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets, und da ich damals noch auf Schalke gespielt habe, kam mir der Impuls, mich zu engagieren. Ich bin ja in der glücklichen Situation, dass ich durch meine Popularität viele Menschen erreiche und aufmerksam machen kann.
Dieser Tage sorgten Pegida-Anhänger für eine aufgeheizte Diskussion, weil sie sich aufregten über Jugendbilder von Jérôme Boateng und Mesut Özil auf der Packung der Kinderschokolade. War das ein Thema im Team?
Neuer: Null. Man braucht sich ja nicht über Schwachsinn zu unterhalten.
Aber sorgt Sie die ausländerfeindliche Stimmung im Land nicht?
Neuer: Ich glaube nicht, dass die Stimmung kippt. Ich bin im Ruhrgebiet groß geworden. Dort war man jahrelang davon abhängig, dass Integration gelingt. Der Bergbau hätte ohne ausländische Arbeiter nicht funktioniert. Ein Beispiel aus meiner Kindheit: Ich habe mit vier Jahren angefangen, auf Schalke Fußball zu spielen. Als ich etwa sieben Jahre alt war, fragte ein Erwachsener, was für ein Landsmann mein Mitspieler denn sei. „Das ist doch ein Ausländer!“, sagte er. Da habe ich geantwortet: „Nein, das ist kein Ausländer, der ist Schalker.“ So wird man groß bei uns. Da gibt es keine Unterschiede.
Ist es das, was der Sport vorleben kann?
Neuer: Ganz genau. Er steht für totale Integration. Schauen Sie: Leroy Sané ist aus Gelsenkirchen, Mesut Özil genauso. Im Ruhrgebiet ist das ganz normal. Eine Ausländerdebatte würde hier keiner verstehen.
Am Sonntag steht in Augsburg das Vorbereitungsspiel gegen die Slowakei an. Die Einnahmen von rund vier Millionen Euro wird der DFB in seine sozialen Projekte stecken. Spüren Sie als Nationalspieler auch eine Verpflichtung, etwas zurückzugeben?
Neuer: Klar. Die Zuschauer wissen, dass sie mit dem Kauf einer Eintrittskarte nicht nur ein tolles Spiel sehen, sondern dass sie der Mannschaft auch noch einen positiven Schub für die EM geben können. Gleichzeitig tun sie etwas Gutes, weil die Einnahmen für soziale Zwecke verwendet werden.
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