Legastheniker prangern Vermerk im Abiturzeugnis an
Drei Männer halten den Hinweis auf Legasthenie in ihren Abiturzeugnissen von 2010 für diskriminierend. Nun landet der Fall vor dem Bundesverfassungsgericht.
Sind Schülerinnen und Schüler mit Legasthenie benachteiligt, wenn in deren Abschlusszeugnissen auf ihre Lernproblematik hingewiesen wird? Drei betroffene Männer, die bereits 2010 an verschiedenen bayerischen Schulen ihr Abitur gemacht haben, sind der Ansicht: ja, sind sie. Nachdem ihre Beschwerde in den vergangenen Jahren durch mehrere gerichtliche Instanzen gegangen ist, landet sie nun vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Die Verhandlung findet am Mittwoch statt und wirft unter anderem auch die grundsätzliche Frage auf, wie im Prüfungsrecht damit umgegangen werden sollte, wenn Kinder und Jugendliche mit diversen Einschränkungen bewertet werden.
In dem konkreten Fall geht es darum, dass in den Abiturzeugnissen der drei Beschwerdeführer mit Vermerken darauf verwiesen wurde, dass ihnen aufgrund fachärztlich bescheinigter Legasthenie Prüfungserleichterungen gewährt wurden. Insbesondere wurden ihre Rechtschreibleistungen in Deutsch und teilweise auch in Fremdsprachen nicht benotet. Aufgrund dieser Vermerke legten sie Verfassungsbeschwerde ein.
Legasthene Abiturienten beschweren sich vor dem Bundesverfassungsgericht
Die Beschwerdeführer selbst wollen sich gegenüber unserer Redaktion nicht äußern. An ihrer Stelle erklärt deren Rechtsanwalt Thomas Schneider am Telefon, worum es den drei Männern geht – nämlich "um Selbstbestimmung und Chancengleichheit". Eine persönliche Eigenschaft, also die Lese-Rechtschreib-Schwäche, sei den Schulen anvertraut und von ihnen "nach außen offenbart worden, ohne dass die Schüler selbst darauf Einfluss haben".
Schneider kritisiert die Chancenungleichheit, die dadurch entsteht, dass sich eben nicht alle Schülerinnen und Schüler mit einem solchen Hinweis im Zeugnis bewerben müssten. Außerdem stelle das Zeugnis mit oder ohne solch eine Bemerkung fest, dass der jeweilige Abiturient die allgemeine Hochschulreife erreicht hat. "Was bezweckt man also damit? Will man Universitäten und Ausbildungsbetriebe vor Legasthenikern warnen?", fragt sich der Rechtsanwalt. "Wir haben das nie verstanden, und vor diesem Hintergrund sehen wir das als diskriminierend an." Ob die drei Beschwerdeführer in ihrem Berufsleben tatsächlich aufgrund des strittigen Vermerks benachteiligt wurden und werden, verrät er nicht.
Für ihre Verfassungsbeschwerde erfahren die drei Männer sowohl Zustimmung als auch Gegenwind. Ein Pressesprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) etwa äußerte sich dahin gehend, dass es "auf die Förderung und die Erhöhung von Erfolgschancen ankommt". Man unterstütze die Position der Beschwerdeführer. Erfolge sollten nicht nachträglich durch derartige Vermerke abgewertet werden.
Heinz-Peter Meidinger, noch bis Ende Juni Präsident des Deutschen Lehrerverbands (DL), ist anderer Meinung. Bei der nun anstehenden Verhandlung wird er dabei sein. Vorab macht er gegenüber unserer Redaktion deutlich, dass sein Verband an den Vermerken festhalten möchte. Denn sie gewährleisteten, dass Noten verlässlich und transparent seien. "Gibt es keine Vermerke, gibt es auch keinen allgemeinen Maßstab, keine allgemeine Leistungsmessung", sagt der DL-Präsident. Das würde die Gerechtigkeit beeinträchtigen. Selbstverständlich sollte der Hinweis im Zeugnis keine negativen Auswirkungen für Legasthenikerinnen und Legastheniker mit sich bringen. Und das täte er laut Meidinger auch nicht, wenn es zum Beispiel um die Zulassung für einen Studienplatz geht. Wie der Prozess endet, könne er jedoch nicht einschätzen.
Darf im Zeugnis stehen, dass die Rechtschreibung nicht bewertet wurde?
Rechtsanwalt Thomas Schneider hingegen glaubt, dass der Prozess für seine Mandanten erfolgreich enden könne. Dennoch sei eine Prognose relativ schwierig, weil eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen wurde, die das Bundesverfassungsgericht so noch nie beantwortet hat. Nach all den Jahren des Wartens rechnet er damit, dass die Entscheidung in zwei bis drei Monaten verkündet werden könnte.
Übrigens ist die Rechtslage in Bayern heutzutage eine andere als noch 2010. Seit 2016 steht in der Bayerischen Schulordnung, dass im Zeugnis vermerkt werden muss, wenn eine Leistung nicht bewertet wurde. Neben Rechtschreibung im Falle einer Legasthenie kann das zum Beispiel auch mündliche Leistungen betreffen, wenn etwa ein Schüler autistisch veranlagt ist. Aufgrund welcher Einschränkung etwas nicht benotet wurde, darf jedoch nicht mehr vermerkt werden. Als die drei Beschwerdeführer vor 13 Jahren ihr Abitur ablegten, war das noch anders. Ihre Zeugnisse wurden inzwischen berichtigt und der Begriff "Legasthenie" gestrichen. Dennoch dürfte auch heute noch jedem klar sein, dass es sich um eine legasthene Person handelt, wenn auf die Nichtbewertung der Rechtschreibung hingewiesen werde, so die Kritik des Rechtsanwalts Schneider.
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"Denn sie [die Vermerke] gewährleisteten, dass Noten verlässlich und transparent seien. "Gibt es keine Vermerke, gibt es auch keinen allgemeinen Maßstab, keine allgemeine Leistungsmessung"
Losgelöst von Legasthenie ist die Aussage grundsätzlich Augenwischerei. Als ob es tatsächlich eine objektive Bewertung gäbe. Selbst wenn die Notenvergabe 100% objektiv wäre (was sie nie sein kann), sind die Rahmen- bzw. Ausgangsbedingungen, in denen einzelne Leistungen erbracht werden, zu unterschiedlich, als dass man sie als allgemeinen Maßstab heranziehen könnte.
Der Glaube an Gerechtigkeit im Schulsystem ist und war schon immer Selbstbetrug, keine Realität.
Wenn ich Vorteile durch meine Legasthenie erhalte wie z. B. längere Bearbeitungszeiten bei Prüfungen, Nichtbewerten von Rechtschreibung etc., dann muss ich auch mit dem Vermerk lim Zeugnis eben. Es steht ja jedem frei bzw. hätte den drei Herren ja freigestanden, auf diese Zugeständnisse zu verzichten, dann steht bzw. stünde auch nichts im Zeugnis betr. Legasthenie usw., die Noten wären halt vermutlich etwas schlechter. Die Vorteile wollen/wollten sie schon haben, die drei Herren, aber keinerlei Konsequenzen daraus tragen.