Irrer Brauch: Nach Ostern kommt der Feuerreiter
Das mittelalterliche Ripatransone feiert jedes Jahr die Krönung seiner Stadtpatronin mit einem wilden Spektakel.
Auf dem Corso Vittorio Emanuele zwischen der Piazza Ascanio Condivi und der Piazza Giacomo Matteotti gibt es in der Dunkelheit dieser Nacht kein Durchkommen: Menschenmassen füllen die Straßen und Gassen des mittelalterlichen Städtchens Ripatransone am späten Abend des Sonntags nach Ostern, und Mutige – vor allem junge Menschen – trauen sich ganz nah an einen 2,50 Meter hohen und drei Meter langen feuerspeienden Schimmel heran, umtanzen ihn enthusiastisch. „Ugna botta na tacchíe“, steht im lokalen Dialekt auf den dunkelroten Sweatshirts vieler. Manche der Sweatshirts haben Brandlöcher, die davon zeugen, dass der Besitzer des Kleidungsstückes den Spruch auf dem Stoff – jeder Knaller möge treffen – in den Vorjahren recht ernst genommen hat.
Am Sonntag nach Ostern feiert Ripatransone, eine kleine Stadt in den italienischen Marken, ein Fest, das kirchliche Traditionen der Marienverehrung und den Jubel ums Feuerpferd-Spektakel „il cavallo di fuoco“ verbindet. Ein Unfall ist in den Jahrhunderten der Existenz der Tradition noch nie passiert, belegen die Annalen der Stadt – wohl, weil man sowohl mit dem Feuerwerk als auch mit dem Rosso piceno, dem örtlichen Rotwein, in jener Nacht trotz aller Ausgelassenheit doch mit Bedacht umgeht.
Giancarlo ist Weinbauer in jener Region der Marken, die in der Antike „Picenum“ hieß und die schon damals für ihre Produktion von Wein, Olivenöl und Obst berühmt war. Und Giancarlo ist Mitglied in der Bruderschaft der Heiligen Madonna von San Giovanni, der verehrten Schutzpatronin der Stadt Ripatransone.
Die Stille der Erwartung liegt in der Luft liegt
„Ihr müsst bis zum Sonntag nach Ostern bleiben“, hatte Giancarlo im vergangenen Jahr gesagt. „Lu cavalla müsst ihr miterleben!“ „Lu cavalla“ bedeutet im Dialekt der Region „das Pferd“, italienisch eigentlich „il cavallo“. Wir blieben also – und staunten einen ganzen Sonntag lang. Staunten über die Menschenmengen schon beim Festgottesdienst im Dom und über die große Ernsthaftigkeit des Segens für die metallene Schimmelstatue, zu der sich Schlag 12 Uhr die dicht gedrängten Menschentrauben auf der Piazza zwischen dem Dom und dem Café Centrale versammeln. Das Pferd, bestückt von Kopf bis Schwanz mit Feuerwerk, steht im Sonnenschein am Sonntagmittag vor dem Portal des Domes. Ein Geistlicher tritt aus dem Dom und segnet die Figur, besprengt sie mit Weihwasser. Das Vaterunser wird gesprochen.
Nach dem Ritus wird es stiller in den engen mittelalterlichen Gassen des Städtchens, die an sich schon wie eine Filmkulisse wirken. Die Stadt nennt sogar das schmalste Gässchen Italiens ihr eigen. Aber es ist nicht die Stille nach dem Ereignis, es ist eine Stille der Erwartung, die an diesem Frühlingsnachmittag in der Luft liegt.
Freilich, man nimmt noch einen Aperitivo oder kauft ein paar süße Stückchen für den Nachmittag. Zunächst wartet man auf die Prozession der Bruderschaften durch die Stadt, bei der eine 1620 von Sebastiano Sebastiani geschaffene Statue der Madonna von San Giovanni am späten Nachmittag durch die Straßen getragen wird zur Erinnerung an jenen Tag, als der Vatikan 1672 endlich dem Wunsch der Bevölkerung nachgab, die Marienstatue zu krönen, und Ripatransone seine Patronin bekam.
Weil man jenes Ereignis schon im Mai 1682 groß zu feiern wusste, hatte man einen damals renommierten Pyrotechniker aus der nahen Provinzhauptstadt Ascoli Piceno geholt – und der ritt am Ende der Feierlichkeiten kühn mit den gezündeten Resten des Feuerwerks auf seinem Pferd durch die Stadt – zum Jubel der applaudierenden Zuschauer. Denen gefiel der wagemutige spontane Auftritt so sehr, dass man ihn bereits zum Jahrestag der Krönung der Madonnenfigur ein Jahr später noch einmal wiederholte. Noch 1701 ist belegt, dass ein Mann namens Pietro Marenzi als Feuerreiter auf einem lebenden Pferd über das Pflaster der Gassen durch die Stadt preschte.
Im 18. Jahrhundert wurde ein schweres hölzernes „Cavallo“ geschaffen, das starke Männer auf den Schultern durch die Stadt trugen; später montierte man – gewiss zur Erleichterung der Männer der Stadt – Räder an die Pferdestatue, was den Weg durch die Gassen um einiges erleichterte.
1994 entstand das metallene Pferd, das heute am Sonntag nach Ostern durch die Straßen gezogen wird – und am späten Abend des Festes mehrmals vor dem Dom auf und ab, jene fast 30 Minuten lang, die es dauert, bis das Feuerwerk von der Schwanzspitze bis zur „girella“, der Feuerspirale auf der Stirn des Pferdes, abgebrannt ist.
Ist das Spektakel vorbei, schläft der Feuerschimmel wieder ein Jahr lang verborgen in seiner Remise, bis zum nächsten Sonntag nach Ostern. Damit die Zeit dazwischen sich nicht zu lange hinzieht, ließ die örtliche Weinbaugenossenschaft ein Etikett für einen Rosso piceno drucken, mit dem man sich das Feuerpferd auch für die Zeit zwischen seinen Auftritten in Erinnerung rufen kann.
Kurz informiert
Der Ort Ripatransone (im lokalen Dialekt Le Ripe) ist eine Gemeinde mit gut 4000 Einwohnern in der italienischen Provinz Ascoli Piceno in den Marken. Die Stadt ist aufgrund ihres Panoramas von der Adria bis zu den Sibillischen Bergen berühmt als „Balkon des Piceno“.
Anreise Ripatransone ist mit der Bahn und mit dem Auto erreichbar. Der nächstgelegene Flughafen liegt hundert Kilometer entfernt in Ancona. Mit dem Auto ist Ripatransone entweder über Innsbruck/Brenner und die Brenner-Autobahn (in Italien A 22) oder über den San Bernardino und Mailand (E 35) nach Bologna erreichbar; ab Bologna führt die Autostrada Adriatica (A 14) bis Pedaso, von dort geht es über den kleinen Badeort Cupra Marittima nach Ripatransone.
Mit der Bahn kann man direkt ab München Hbf mit dem Eurocity nach Bologna Centrale und weiter mit der Frecciabianca nach San Benedetto del Tronto fahren.
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