Jeff Wall in Basel: Der eine, unscheinbare Moment
Der Kanadier Jeff Wall hat die künstlerische Fotografie in neue Sphären katapultiert. Spannend ist, was in seinen Bildern nicht zu sehen ist, wie eine fabelhafte Retrospektive zeigt.
Was tummelt sich da bloß in diesem überschwemmten Friedhofsgrab? Seesterne etwa? Anemonen? Weshalb legt sich ein kleines Mädchen im blütenweißen Sommerkleid eben mal vor dem Vater auf den Gehweg? Ist es trotzig oder einfach müde? Und wird der Bärtige, der sich gerade beim Rückwärtssalto probiert, mit den Füßen aufkommen? Oder doch eher auf die Schnauze fallen? Vor Jeff Walls Bilderwelten läuft die Denkmaschine sofort auf Hochtouren. Ganz gleichgültig, wo man einsteigt. Und in der Fondation Beyeler im Basler Vorort Riehen sind dem kanadischen Fotokünstler immerhin elf Räume gewidmet – mit erstaunlichen 55 von mittlerweile um die 200 Werken.
Die Retrospektive reicht vom längst ikonischen „Denker“, der seit Mitte der achtziger Jahre frei nach Auguste Rodin auf seinem fragilen Podest ausharrt, bis zu einer späten, erst vor einem Jahr festgehaltenen Grüblerin, die sich zwischen Bücherregalen – Vermeer lässt grüßen – auf das Loch einer Socke konzentriert. Stopfen oder nicht, lautet die Frage, so, als würde sich damit eine ganz grundsätzliche Überlegung verbinden, wie sie vielleicht auch der vom Pferd gestürzten Reiterin durch den Kopf geht.
Fotograf Jeff Wall arbeitet mit den Mitteln des Kinos
Spannend ist, was in diesen Bildern nicht passiert. Also was kommen oder was bereits geschehen sein könnte, und was sich unwillkürlich vor unserem geistigen Auge abspielt. Wall kennt die Kniffe des Kinos, bezeichnet sein Vorgehen als kinematografisch. Das ist zunächst nicht ungewöhnlich und nimmt seinen Anfang bereits in der Daguerreotypie. Denn um nur etwas halbwegs Brauchbares auf eine Silberplatte zu bekommen, musste man sich genau überlegen, wer oder was wo und wie in Positur zu bringen war – und wie sich damit etwas mitteilen ließ. Gustave Le Gray etwa hat für seine Stimmungsbilder Details verschiedener Landschaften kombiniert, während sein Schüler Olympe Aguado die eigene Familie in herrlich ironischen Tableaux vivants arrangierte.
Auch da entfalten sich kleine „Drehs“, das zieht sich durch die gesamte Fotografikgeschichte. Bei Jeff Wall gewinnt diese Tradition allerdings eine besondere Qualität. Vielmehr ist es der eine, oft sogar unscheinbare Moment, in dem sich alles verdichtet und aus dem sich wieder unzählige neue Momente oder Möglichkeiten entwickeln lassen. Es gibt ja auch keine Lösung. Ob die Burschen, die im edlen Wohnzimmerambiente boxen, irgendwann im Gemälde an der Wand landen oder in den Orchideen auf dem Couchtisch, ist schwer zu sagen. Dagegen dürfte es beim Fall eines Buben vom Baum eher nicht gut ausgehen. Aber weiß man’s?
Ausstellung in Basel: Menschen wirken wie bestellt und nicht abgeholt
Das Spektrum ist sowieso enorm und reicht vom mehr oder weniger spontanen Schnappschuss bis zu aufwendigen Inszenierungen. Dabei geht es dem inzwischen 77-jährigen Wall nicht um bestimmte Themen, die ihn umtreiben oder die er abarbeiten muss. Natürlich, da sind die eigentümlichen Paarkonstellationen, Menschen, die wie bestellt und nicht abgeholt wirken und in die Leere starren, auch Figuren, die manchmal wie Stuntmen gefährlich in der Luft hängen oder aus unerfindlichen Gründen unterm Tisch liegen. Und gar nicht so selten stellt sich der Eindruck von Einsamkeit ein. Aber das scheint Wall am Ende weniger zu interessieren als die Möglichkeiten der Lichtbildnerei und der künstlerische Prozess an sich.
Man stellt sich riesige Sets vor, unzählige Assistenten und das minutiöse Positionieren von Gegenständen und Personal. Jeff Wall verneint das vehement. Auch der Zufall und das zufällige Agieren seiner nie professionellen Protagonisten gehören zum Prozedere, betont er. Doch dadurch wird freilich alles noch viel ausgebuffter. Dann schafft es dieser Meister der Präzision, in einer Mischung aus Virtuosität und Intuition die perfekten Bilder zu treffen. So wie den großen Jazzern beim lustvoll angeheizten Improvisieren der grandiose Live-Gig glückt.
Auch Bezüge zur Kunstgeschichte finden sich in den Fotografien Jeff Walls
Und wenn sich bei Wall einer eine Maske aufsetzt oder eine Tüte herumliegt, umso besser. Das stachelt die Gedanken an, das sorgt für unlösbare Details. Zumal im US-Amerikanischen, wo das Böse oder das Bedrohliche gemeinhin von braunem Papier verhüllt werden muss. Und weil Wall nicht wertet, tun wir das umso intensiver.
Man darf dabei aber auch den studierten Kunsthistoriker Wall nicht unterschlagen, da sind die Anspielungen auf Dürer – der Dolch im Rücken des Denkers – und Hokusai, auf Delacroix’ Obsessionen-Bombast und immer wieder Manet mit seiner ausgeklügelten nachgestellten Wirklichkeit. Wall, der in seiner Heimat Vancouver die meisten Motive findet, gelingt sogar die Übersetzung von Romanvisionen: Der Schwarze zum Beispiel, der in einem messihaft zugemüllten fensterlosen Zimmer unter einem Meer von Lampen hingebungsvoll eine Schüssel trockenreibt, scheint Ralph Ellisons Klassiker „Invisible Man“ von 1952 entsprungen: „In meiner Höhle im Kellergeschoss brennen genau 1369 Lampen …“. Walls Lesart geht trotz der exakt abgezählten 1369 Glühbirnen über jede Illustration hinaus und fokussiert Ellisons Diskriminierungsepos über einen sozial Unsichtbaren auf eine einzige überbordende Etage. Und durch den für Wall typischen Leuchtkasten gerät die Komposition in den Bereich der Historienbildnerei.
Das ist überhaupt sein Clou, denn er nutzt das effektvolle Medium gerade nicht wie in der Reklame. Selbst die auf den ersten Blick eindeutigen Szenen verbreiten keine klare Nachricht. Es gibt weder eine Aufforderung noch ein affirmatives „So und nicht anders“, sondern das Gegenteil. Jeff Wall entwirft Rätsel. Man ist gebannt und beschäftigt, deshalb zückt in dieser fabelhaften Ausstellung keiner die Smartphone-Kamera. Bei so unfassbar guter Fotokunst wäre das auch albern.
Laufzeit bis 21. April in der Fondation Beyeler, Riehen
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