Herr Ludovico Einaudi, haben Sie Ihr neues Album „Underwater“ am Meer komponiert?
Ludovico Einaudi: Nein, in den Bergen (lacht). Ich war eigentlich nur dort, um für eine Woche etwas Kraft zu tanken nach einer anstrengenden Tournee. Plötzlich stoppte die Welt, und ich beschloss, zu bleiben, wo ich bin, denkbar weit weg vom Weltgeschehen.
Wie hat sich das angefühlt?
Einaudi: Ehrlich? Richtig schön. Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Den Anfang dieser Pandemie habe ich wirklich genossen. Keine Frage, viele Menschen haben gelitten, und es gab sehr viele schlimme Aspekte, doch die positive Seite der Medaille ist der, dass ich das Gefühl hatte, endlich wieder atmen zu können. Mein Gehirn fühlte sich frei an. Ich hatte keinen Stress, keinen Druck, keine Ängste. Dieser Lockdown war für mich wirklich eine großartige, wunderbare Erfahrung.
Wie haben Sie Ihre Tage verbracht?
Einaudi: Mit sehr langen und tollen Spaziergängen, mit Fotografieren und mit Musikschreiben. Niemand hat mich gestört. Herrlich.
Was inspiriert Sie beim Komponieren mehr: die Außenwelt oder die Welt in Ihrem Kopf?
Einaudi: Das lässt sich nicht trennen. Die Stille hat mein Gehirn beeinflusst, und ich geriet förmlich in eine andere innere Dimension. Ich war endlos weit entfernt von unserer normalen Welt und fühlte mich ganz leicht, quasi schwerelos. Ich schwamm frei und ohne Begrenzungen und Filter durch meine Gedanken und war im Unterbewusstsein komplett verknüpft mit meiner Musik. Sie kam zu mir, ohne Anstrengung. „Underwater“ ist ein intuitives Tagebuch meiner Gedanken und Gefühle.

Konnten Sie sich anschließend an Ihre eigene Musik erinnern?
Einaudi: Manchmal weiß ich tatsächlich nicht mehr, wie diese Stücke entstanden sind. Ich hörte etwas Tage nach dem Aufnehmen, und es wirkte, als sei es gar nicht von mir selbst. Zugleich realisiere ich, dass in dieser Musik etwas Neues, etwas Mysteriöses steckte. So entschloss ich mich, ein Album mit diesen Ideen zusammenstellen und die vielen, vielen Fragmente und Variationen zu zwölf Stücken zusammenzufassen.
Was ist für Sie das Besondere an den neuen Stücken?
Einaudi: Ich finde sie rauer und ursprünglicher als meine Musik sonst. Und selbst für meine Verhältnisse sind sie überdurchschnittlich meditativ und hypnotisierend. „Underwater“ klingt wie das Zeugnis einer Flucht in eine andere Dimension. Das Album wärmt und beruhigt meine Seele, doch es bewegt auch meine Emotionen.
Viele Menschen fühlen sich beruhigt und geborgen, wenn sie Ihre Musik hören. Sind unsichere Pandemiezeiten gute Zeiten für Ihre Kunst?
Einaudi: Ja, ich denke schon. Musik generell profitiert in dieser Zeit. Musik zu hören ist eine ideale Möglichkeit, um in sich selbst hineinzuhorchen und über sich nachzudenken. Wir Menschen haben eine Gesellschaft gebaut, in der sich alles ums Kaufen, ums Konsumieren und um Äußerlichkeiten dreht. Ich finde es sehr wichtig, auch nach innen zu blicken und Zeit mit sich selbst zu verbringen. Musik hilft dir und unterstützt dich dabei.
Haben Sie sich diesen Zustand von weniger Stress und mehr Freiheit eigentlich erhalten können
Einaudi: Teile sind noch da, und ich versuche an ihnen festzuhalten, selbst wenn sich die Welt ja längst wieder in Gang gesetzt hat. Die Wirtschaft treibt unser Leben nun einmal an, und ich verstehe das auch, nur sollten wir nicht vollständig ignorieren, dass dieser Lockdown der einzige Moment in Jahrzehnten war, wo die Natur wieder aufatmen konnte. Manche Fischarten kehrten in die Lagune von Venedig zurück, die Luftqualität verbesserte sich. Rein aus Sicht des Klimas lief plötzlich vieles in eine richtige Richtung.
Sie selbst haben 2016 auf die Erderwärmung aufmerksam gemacht, als Sie in Zusammenarbeit mit Greenpeace auf einer Eisscholle vor Spitzbergen am Piano sitzend das Stück „Elegy For The Arctic“ spielten. Wird sich die Klimakrise in irgendeiner Form lösen oder abmildern lassen?
Einaudi: Ich tendiere generell zum Optimismus, aber in dieser Frage bin ich skeptisch. Die Veränderungen geschehen zu langsam in Anbetracht der dramatischen Situation, in der wir stecken. Unsere Schritte sind zu klein, und die Zeit ist nicht auf unserer Seite.
Sie haben zuletzt die Soundtracks zu den vielfach, unter anderem mit Oscars, ausgezeichneten Filmen „Nomadland“ und „The Father“ komponiert. Was war das Besondere an diesen Arbeiten?
Einaudi: In „Nomadland“ habe ich mit der Regisseurin Chloé Zhao Musik von meinem vorherigen Album „Seven Days Walking“ ausgesucht. Das passt sehr gut, denn es geht auf dieser Platte um das Verschwinden in dir selbst. Die Menschen in „Nomadland“ verschwinden ihrerseits mehr oder weniger aus der Gesellschaft. Sie suchen für sich eine Lösungsmöglichkeit, indem sie eine parallele Gesellschaft gründen, ohne Regeln.
Ihr Großvater Luigi Einaudi war der erste Staatspräsident Italiens, Ihr Vater ein bekannter Verleger. Hatten Sie auch je erwogen, aus diesem Korsett des Wohlstands und der Erwartungen zu fliehen?
Einaudi: Ja, meine Familie ist sehr etabliert. Ich wollte als junger Mensch diese Zwänge nicht. Die Musik war der einzige Weg, den ich finden konnte, um frei zu sein.
Sie sind der am meisten gestreamte Klassikkünstler der Welt. Ist es cool, Ihre Musik auf TikTok und Spotify zu hören?
Einaudi: Natürlich, das sehe ich als eine absolut positive Sache an. Ich habe nie etwas davon gehalten, dass klassische Musik den Konzerthäusern vorbehalten sein soll. Elitäres Denken ist mir immer fremd gewesen. Junge Menschen entdecken meine Musik eben dort, wo sie sich aufhalten: im Internet.
Wie kann sich eigentlich der Entspannungsmusiker Einaudi entspannen?
Einaudi: Ich liebe das Kochen. Und ich gehe schrecklich gerne auf den Wochenmarkt in Alba und suche dort nach dem perfekten Gemüse und dem perfekten Brot für meine Mahlzeiten. Ansonsten bin ich am liebsten draußen mit meiner analogen Kamera und warte auf schönes Licht, um Fotos zu machen.
Haben Sie den Schwan auf dem Albumcover auch selbst fotografiert?
Einaudi: Habe ich. Vor Jahren, irgendwo in einem Park in London. Der Schwan ist ein geheimnisvolles und etwas rätselhaftes Tier. Für mich ist er eng verbunden mit der Welt, die ich auf diesem Album präsentiere.
Zur Person
Ludovico Einaudi, 66, entstammt einer der einflussreichsten italienischen Familien. Nach seiner Ausbildung auf dem Guiseppe-Verdi-Konservatorium in Mailand (mit Avantgarde-Komponist Luciano Berio als seinem Mentor) begann er eine Laufbahn als Filmkomponist, bevor er Mitte der Neunziger mit minimalistischen Solo-Klavierwerken erfolgreich wurde. Einaudi lebt in Turin und auf dem großelterlichen Weingut im Piemont nahe der Stadt Alba. Auf seinem neuen Album „Underwater“ taucht Ludovico Einaudi tief in seine betörende Neoklassik-Klangwelt ein. Als Umweltaktivist spielte er auch schon in der Arktis.