Neues Album "Zeit": Rammstein spielen mit ihrem Abschied
Deutschlands erfolgreichste Band präsentiert ihr achtes Album "Zeit". Eingepackt in monumentale Sounds deuten Rammstein darauf immer wieder ein mögliches Ende an.
Packen die sechs Männer jetzt echt so langsam zusammen? Sollte das achte Rammstein-Album „Zeit“ tatsächlich das letzte sein? Die künstlerischen Anzeichen zumindest, die auf einen einigermaßen zeitnahen Abschied hindeuten – mutmaßlich jedoch erst nach einer sehr, sehr langen Welttournee, immerhin müssen jetzt im Sommer ja erst mal die Nachholkonzerte von 2020 gespielt werden – verstecken sich in dem elf Songs umfassenden Werk nicht gerade subtil. Im letzten Lied drischt die Band mit der Rücktrittskeule regelrecht auf ihr Publikum ein.
„Adieu“ heißt die Nummer, musikalisch ist sie im Stadionrock der mittelschnellen und melodisch glasklar eingängigen Güte verankert. Damit das internationale Publikum (Rammstein ist die seit vielen Jahren erfolgreichste und bekannteste deutsche Band im Ausland, man hat 20 Millionen Tonträger verkauft und macht stets locker die Madison Square Gardens dieser Welt voll) die Ansage auch versteht, folgt dem „Adieu“ noch ein „Goodbye“ und ein „Auf Wiedersehen.“ Weiter singt Till Lindemann: „Ein letztes Lied/ein letzter Kuss/kein Wunder wird geschehen“.
Die Vergänglichkeit lauert hinter jeder Ecke von Rammsteins "Zeit"
Kann natürlich sein, dass Rammstein blufft. „Adieu“ lässt sich schließlich auch als Lebewohl an eine geliebte, nun nicht länger unter uns weilende, Person lesen, „Nur der Tod währt allezeit/er flüstert unterm Tannenzweig“ so die Eingangszeile. Und überhaupt lauert die Vergänglichkeit quasi hinter jeder Ecke dieser Platte. Die vorab veröffentlichte, ganz unironisch emotional ergriffen machende und musikalisch fast schon als zart zu bezeichnende Ballade „Zeit“ befasst sich letztlich auch mit niemand geringerem als dem gefürchteten Gevatter. Im Text heißt es: „Wenn unsere Zeit gekommen ist/Dann ist es Zeit zu gehen/Aufhören, wenn es am schönsten ist/Die Uhren bleiben stehen“. Das Video, inszeniert von Schauspieler Robert Gwisdek, bildet dazu ein Menschenleben im Zeitraffer und in umgekehrter Reihenfolge ab, sehr natürlich wirkende Aufnahmen einer Geburt inklusive. Man kann hier von großer Kunst sprechen.
Ganz grundsätzlich vermittelt dieses Album ein Gefühl, das man im Zusammenhang mit Rammstein bislang wenig kannte: Etwas zutiefst Versöhnliches. Vielleicht liegt es ja wirklich an dieser schwebenden Abschiedsromantik, dass man beim Hören ständig aufstehen und die Musiker drücken möchte.
Nie waren Rammstein empathischer
So nachdenklich und von solch immenser Melancholie war definitiv kein Rammstein-Album zuvor. Sei es im ersten Stück „Armee der Tristen“, in dem sie mit orchestraler, auch im Soundtrack von „Herr der Ringe“ oder gleich bei James Bond vorstellbarer Wucht im „Gleichschritt gegen Glück“ aufmarschieren. Sei es in „Schwarz“, der erneut dramatisch und leicht in Richtung Unheilig abdriftenden Liebeserklärung an die Dunkelheit, sei es im recht langsamen und tieftraurigen „Meine Tränen“, in dessen Text der Protagonist auf unheilvolle Weise mit seiner alten Mutter zusammenlebt („Sie zwingt mich oft auf ihren Schoss/ uch schlägt sie immer noch in mein Gesicht“), sei es schließlich im als Anti-Kirchenlied deutbaren und mit AC/DC-Gitarren ausstaffierten „Angst“. Die Charaktere, die dieses Album bevölkern, wirken nicht selten verzweifelt und verloren, in jedem Fall bemitleidenswert. Man könnte auch sagen: Nie waren Rammstein nicht nur pathetischer, sondern auch empathischer als heute.
Sie hatten ja, bei aller geistreichen Genialität, auch immer etwas latent Effekthascherisches an sich, manche Provokation nervte, frühe Flirts mit der nationalsozialistischen Ästhetik à la Leni Riefenstahl verstörten nicht zwingend auf gute Weise. Aber der Band, deren Debütalbum „Herzeleid“ vor 27 Jahren herauskam, haftet heutzutage etwas Gravitätisches an. Die Berliner scheinen sich ganz gemütlich eingerichtet zu haben in ihrer Rolle als Kulturgut von fast staatstragendem Rang. Ein Till Lindemann wird Anfang 2023 schließlich auch schon 60. Auch in punkto Krieg positioniert sich die Band, die in beiden Ländern viele Fans hat (Lindemann sang noch im September auf einem Festival des russischen Verteidigungsministeriums in Moskau), auf ihrer Website unzweideutig auf der Seite des ukrainischen Volkes.
Der Tastenmann dominiert das neue Album
Musikalischer Schlüsselspieler ist drei Jahre nach dem unbetitelten Vorgängerwerk dennoch ein anderer, nämlich Christian „Flake“ Lorenz. Der Tastenmann prägt, ja dominiert, das wieder von Olsen Involtini in den „La Fabrique“-Studios in der Provence aufgenommene Album mit seinem Spiel. „Zick Zack“ etwa, das zweitlustigste Lied auf „Zeit“, hat mit seinem geballten Synthesizer-Einsatz was von den Pet Shop Boys, und man kann sich sogar ein kleines bisschen an Madonnas „Like A Prayer“ erinnert fühlen. Inhaltlich ist der sarkastisch funkelnde Song eine Persiflage auf den Schönheits- und Selbstoptimierungswahn nebst der dazugehörigen Chirurgie, wobei auch hier wieder mit dem eigenen Siechtum kokettiert wird, etwa im Refrain „Tick-tack, tick-tack, du wirst alt/Deine Zeit läuft langsam ab.“ Im Videoclip entgleitet Till Lindemann gleich die ganze Gesichtshälfte.
Gerade, als man sich damit arrangiert hat, dass dieses massiv auf Stadionkompatibilität getrimmte Album zwar musikalisch mitreißt und textlich bewegt, allerdings kaum kontroverser ist als ein Zwergkaninchen, da hauen sie doch noch einen raus. Ehrlich, der Verfasser dieses Texts kann sich nicht festlegen, ob „Dicke Titten“ nun supergenial ist oder mega cringe, wie das Jungvolk sagt. Auf jeden Fall ist es wunderbar stumpf. Wir treffen in dem mit Fanfaren garnierten und nach Blaskapelle klingenden Song auf einen unsagbar einsamen, natürlich nicht mehr jungen Mann, der sich über alles nach einer Frau sehnt. Aber nach was für einer? Der bis auf etwas Keyboard A cappella gesungene Refrain jedenfalls geht so: „Sie muss nicht schön sein/Sie muss nicht klug sein/Sie muss nicht reich sein/Doch um eines möchte‘ ich bitten – dicke Titten“. Leicht vorstellbar, dass dieses schon jetzt nach einem künftigen hochprozentualen Klassiker klingende Grinse-Lied der Schützenfest- und Wiesn-Hit des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts, wird.
Das Album „Zeit“ erscheint am 29. April.
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