
Experte zum Fall Luise: "Können nicht alles über das Strafrecht abdecken"

Warum der Kriminologe und Jugendstrafexperte Professor Frieder Dünkel nach dem Mord in Freudenberg eine Herabsetzung der Strafmündigkeit für Jugendliche ablehnt.
Fällt Ihnen ein Fall ein, der mit der Gewalttat von Freudenberg, dem Mord an der zwölfjährigen Luise, zu vergleichen ist?
Frieder Dünkel: Ein Mord, bei dem die Täter so jung sind, ist mir in Deutschland nicht bekannt. Mich erinnert die Tat an den Mord an dem zweijährigen James Bulger 1993 in Großbritannien. Die beiden Täter waren zehn Jahre alt. Die Richter verurteilten die beiden Jungen zu einer lebenslangen Haft im Jugendgefängnis. Aus meiner Sicht war das eine verfehlte Entscheidung, die auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verfahrensfehlern kritisiert wurde. Letztlich verbüßten die beiden Täter das Mindestmaß der Strafe von acht Jahren.
Wieso war das Urteil im Fall James Bulger aus Ihrer Sicht falsch?
Dünkel: Wir haben in Deutschland ein anderes Rechtsverständnis als die angelsächsischen Länder. Das Recht in Kontinentaleuropa setzt für die Strafmündigkeit Handlungsfähigkeit voraus. Kinder unter 14 Jahren können zwar Recht und Unrecht in ihrer Alltagswelt unterscheiden, haben jedoch noch nicht die Reife, nach dieser Unrechtseinsicht in komplexeren Situationen beziehungsweise gefühlsbetonten Kontexten zu handeln. Auch bei grundsätzlich strafmündigen 14- bis 18-jährigen Jugendlichen sind diese beiden Komponenten für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit Voraussetzung. Bei unter 14-Jährigen geht der Gesetzgeber von einer unwiderlegbaren Vermutung aus, dass diese Einsichts- und Handlungsfähigkeit noch nicht vorhanden ist.
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Nun reden wir im Fall Luise nicht von einer Bagatelle und die Mädchen, die den Mord gestanden haben, sind auch keine Kleinkinder.
Dünkel: Was sollte man mit unter 14-Jährigen im Strafvollzug anfangen? Sie würden Opfer von Mobbing und Gewalt älterer Insassen. Man muss bedenken, dass im Jugendstrafvollzug 90 Prozent der Insassen zwischen 18 und 25 Jahren alt sind. Man müsste also die ganz jungen Insassen dadurch schützen, dass man sie in Heime der Jugendhilfe aufnimmt, um dem Erziehungsauftrag gerecht zu werden. Genau das ist aber die Option, die heute im Rahmen des Jugendhilferechts besteht, unter Umständen durch eine familiengerichtliche Einweisung nach Paragraph 1631b des Bürgerlichen Gesetzbuches.
Justizminister Marco Buschmann hat also recht, wenn er eine Debatte über eine Herabsenkung des Alters für die Strafmündigkeit nicht führen will?
Dünkel: Herr Buschmann hat absolut recht, denn spektakuläre Einzelfälle sind nicht geeignet, eine rationale Kriminalpolitik zu begründen. Es gab in der Vergangenheit gelegentlich Vorschläge der konservativen Parteien, das Strafmündigkeitsalter abzusenken, unter anderem in den 1990er Jahren angesichts vermeintlich steigender Kinderkriminalitätszahlen, die sich aber auch damals in der Regel auf Bagatelldelikte bezogen. Mit guten Gründen gibt es einen weitgehenden europäischen Konsens, das Alter strafrechtlicher Verantwortlichkeit bei 14 oder 15 Jahren anzusetzen. Dafür gibt es auch aktuell belegte gute wissenschaftliche Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und der Neurowissenschaften.
Die beiden Mädchen, die den Mord gestanden haben, kommen also ohne Strafe davon. Wie gerecht ist das?
Dünkel: Wie bereits angedeutet, bleibt die Tat für die Mädchen nicht folgenlos. Sie werden in die Obhut des Jugendamts genommen, das die weiteren Hilfen veranlassen wird. Gegebenenfalls kann das erzieherische Maßnahmen bis hin zu einer Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung der Jugendhilfe beinhalten.
Ein Strafverfahren vor Gericht könnte doch zumindest den Eltern helfen, die unfassbare Tat besser zu verstehen. Einen Prozess wird es nach geltendem Recht aber nicht geben.
Dünkel: Eine Ermittlung der Motive wird es dennoch geben. Es wird nicht achselzuckend zur Tagesordnung übergegangen. Aber die Fragen, was passiert ist und ob die Tragödie hätte verhindert werden können, müssen nicht im Jugendstrafrecht beantwortet werden.

Viele schockiert, dass Mädchen mit roher Gewalt gemordet haben sollen. Brutalität wird eher Männern und Jungen zugeordnet. Ist dieser Eindruck falsch?
Dünkel: Man sollte in der Wortwahl vorsichtig sein, über die Brutalität der Tat ist außer, dass ein Messer benutzt wurde, mir im Detail nichts bekannt. Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist für 2021 insgesamt 15 Straftaten gegen das Leben für unter 14-jährige Tatverdächtige aus, davon zehn männliche und fünf weibliche Beschuldigte. Männliche Tatverdächtige sind bei der Gewaltkriminalität deutlich überrepräsentiert, aber es gab und gibt immer wieder Einzelfälle weiblicher Gewalttäter. Der Anteil Strafunmündiger bei Straftaten gegen das Leben lag 2021 insgesamt bei 0,4 Prozent. 15 von 3519 Fällen.
Was schließen Sie aus diesen Zahlen?
Dünkel: Es handelt sich um absolut seltene Ereignisse. Man kann auch nicht davon sprechen, dass schwere Gewalttaten strafunmündiger Minderjähriger zugenommen hätten, im Gegenteil ist seit Jahrzehnten ein Rückgang schwerer Gewaltkriminalität zu beobachten.
Sie klingen, als müsste die Gesellschaft akzeptieren, dass ab und zu Abscheuliches geschieht.
Dünkel: Das Strafrecht kann nicht alles abdecken. In Freudenberg ist eine Katastrophe geschehen. Eine Katastrophe, die durch Kinder verursacht wurde. Damit müssen wir tatsächlich leben.
Zur Person: Professor Frieder Dünkel, 72, war bis zu seinem Ruhestand 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Universität Greifswald.
Die Diskussion ist geschlossen.
"Dünkel: Das Strafrecht kann nicht alles abdecken. In Freudenberg ist eine Katastrophe geschehen. Eine Katastrophe, die durch Kinder verursacht wurde. Damit müssen wir tatsächlich leben."
Das kann und muß man voll unterstreichen.
Das Strafrecht dient aber dazu Schuld und Unschuld festzustellen. Und zwar vor Gericht durch Rechtsprechung und nicht durch ermittelnde Behörden, die ihr eigenes Interesse an der Aufklärung haben.
Um jetzt doch mal auf den Fall Luise zu kommen: Man hat immer noch nicht das Tatmesser gefunden. Das ist doch einigermaßen seltsam, oder? Zwei Mädchen, die die Tat gestanden haben sollen - aber das Messer ist nicht auffindbar. Die müssen doch wissen, was sie damit gemacht haben und ergo sollte man es finden können. Oder war die Sache am Ende doch anders, es gibt noch einen dritten Tatbeteiligten? Hat er den Mädchen gedroht?
Wenn man weiß, was Kinder in angeblichen Missbrauchsfällen schon alles behauptet haben - fern jeglicher Realität, dann ist es zumindest nicht völlig abwegig, dass die Sache nicht so abgelaufen ist, wie sie sich momentan darstellt.
Noch einmal die Frage: Wer befragt die Kinder eigentlich und wird ihnen ab einem Moment, an dem der Verdacht aufkommt, dass sie selbst Täter sein könnten, ein Rechtsbeistand beigestellt oder kann das praktischerweise unterbleiben, weil sie ja ohnehin nicht vor Gericht kommen werden? (Nur die Folgen, die dürfen sie und ihre Eltern natürlich trotzdem ein Leben lang tragen). Wer übt wie viel Druck auf diese aus, damit sie zugeben, was zuzugeben ist oder was sie zugeben sollen?
Ich halte das für nahezu unerträglich. Die Fälle sind selten und natürlich soll nicht jedes Kind, das ein Rad geklaut hat vor Gericht. Aber bei Kapitalverbrechen halte ich das für erforderlich, damit eben Tatbeteiligungen geklärt und zugeordnet werden.
Vor Gericht wird dann auch - wie bei einem Erwachsenen - abgeklärt, ob eine Schuldfähigkeit vorliegt (Alter, Reifegrad). Wenn ein Gutachten aussagt, dass ein 13jähriger sehr weit in seiner Entwicklung ist, warum soll er dann für einen Mord nicht angemessen bestraft werden. Wer erwiesenermaßen Täter ist und die Reife erwiesenermaßen nicht hat, der bekommt keine Strafe aber eine entsprechende Jugendmaßnahme.
Die Diskussion reduziert sich stets nur aufs Abstrafen. Dabei hält die gesetzliche Regelung mit der Strafunmündigkeit ganz andere Problematiken bereit.
Nicht ganz: Das Jugendstrafrecht ist im wesentlichen vom Erziehungsgedanken her geprägt. Und Strafen, besonders hohe Strafen, können kontraproduktiv sein. Dies schlägt sich nieder in den bis zu 14 Jahren wo man als strafunmündig gilt.
Ich möchte einen anderen Aspekt ansprechen und beleuchten: Auch wenn jemand schuldunfähig ist, wird er ja normalerweise vor Gericht gestellt und in dem Prozess wird die Tat aufgeklärt, es werden vor der Instanz Judikative die Tatumstände beleuchtet, Zeugen gehört und ein Urteil gesprochen - das dann eben ggf. auf Freispruch wegen Schuldunfähigkeit lautet (den Verurteilten dann aber in die Forensik bringt)
Dadurch, dass unter 14-Jährige per Gesetz schuldunfähig sind, bleibt dieser objektive Prozess außen vor - es wird also letztlich die Schuldfrage nicht im Sinne unserer Rechtsstaatlichkeit geklärt. Die Polizei klärt auf, befindet, wertet Tatbeteiligungen und gibt Presseerklärungen ab, die Verdächtige zu Tätern machen.
Das ist ungut. Da bleibt ein schaler Geschmack zurück. Gerade auch bei zwei (möglichen)Tätern, kann es doch eigentlich nicht sein, dass ungeklärt bleibt, wer welchen Tatbeitrag geleistet hat. Weil die Verdächtigen strafunmündig sind, wird ihnen ein wichtiger rechtsstaatlicher Schutz verwehrt - nämlich die Aufklärung der Tat und ggf. eben auch ein Freispruch und zwar nicht wegen Schuldunfähigkeit sondern weil es doch ganz anders war als es sich zunächst darstellte oder weil die Tatbeteiligung eine andere war oder ein Jüngerer von einem Älteren dazu bestimmt wurde, etwas zu tun.
Ich sehe da durchaus einen Unterschied auch dahin gehend, ob sich einer der ggf. jungen Beteiligten ein Leben lang vorhalten lassen muss, ein Mörder zu sein - ein unbestrafter halt - vllt. zu Unrecht. Seine Tat wurde eigentlich nicht so erwiesen wie das der Rechtsstaat vorsieht.
Man muss die Kinder schützen heißt es - aber eigentlich schützt man sie nicht, denn sie können sich auch nicht in einem Prozess äußern, fertig gemacht werden sie trotzdem, mit dem, was die Polizei ermittelt hat, was aber streng genommen nicht erwiesen ist. Ist es nicht schon vorgekommen, dass die Polizei falsche Geständnisse erzwungen hat? Wie werden die Kinder eigentlich 'verhört'? Bekommen sie einen Rechtsbeistand, wie das doch an sich Vorschrift ist oder kann man sich das bei diesen sparen - weil sie ggf. eh nicht vor Gericht müssen.
Irgendwas stimmt da nicht im System und mir geht es nicht um die Bestrafung sondern um eine korrekte Aufklärung, die eben nicht ausschließlich Polizei und Staatsanwaltschaft obliegen können, solange Verdächtige noch leben.
Ich bitte, diese Überlegungen nicht auf den Fall Luise zu übertragen. Es geht ums Grundsätzliche. Ich will nicht unbedingt strafunmündige Kinder bestraft sehen - ich will Fälle korrekt aufgeklärt sehen und in einem solchen Prozess könnte dann immer noch speziell im Einzelfall geprüft werden - wie der Reifegrad eines ggf. zu verurteilenden Verdächtigen ist, der es je nachdem doch zulässt, ihm Verantwortung aufzuerlegen für sein Tun.
Welche politische und gesellschaftliche Teilhabe haben denn 14-jährige in diesem Land? Oder 16-jährige? Welche Teilhabe die haben, das sieht man an unseren Schulen und Jugendeinrichtungen tagtäglich. Bröckelnder Putz von den Wänden der Schulen und Jugendeinrichtungen, ein Bundestag mit einem Durchschnittsalter von 47 Jahren, zu laute Spielplätze... ja da können Jugendliche aber so richtig teilhaben...
Beschäftigen Sie sich mit der Geschichte der Strafmündigkeit. Nicht ganz ohne Grund hat man sich auf die 14 Jahre festgelegt. Handy in der Tasche, Markenklamotten und 2cm Schminke im Gesicht machen noch keinen Erwachsenen...
Auf der einen Seite sollen und wollen Jugendliche mehr und mehr in jungen Jahren am politischen und gesellschaftlichen Leben verantwortlich teilnehmen; wir sollen und befürworten diesen Jugendlichen dieses gewünschte Handeln, und andererseits tragen wir aber dieser früheren Teilhabe im Bereich der Verantwortung keinerlei Rechnung. Frei nach dem Motto, mit früheren Jahren mehr Möglichkeiten, aber Verantwortung erst mit wesentlich späterem Alter. Dies kann durch die Gesellschaft doch nicht zustimmend aufgenommen werden.
Haben Sie eigentlich verstanden, dass es sich um Kinder handelt.
"Frei nach dem Motto, mit früheren Jahren mehr Möglichkeiten, aber Verantwortung erst mit wesentlich späterem Alter. "
Welche Möglichkeiten bei Kindern haben Sie da so im Sinn?
"mit früheren Jahren mehr Möglichkeiten, aber Verantwortung erst mit wesentlich späterem Alter"
Man nennt das auch Erziehung...
#Michael K.
"Man nennt das auch Erziehung..."
Genau das frage ich mich dabei auch, wo bleibt die Verantwortung der Erziehungsberechtigten?
Da wurde augenscheinlich sehr lange nicht mehr hingesehen.
@ Michael K.
@ Peter Z.
Vorverurteilungen dürfte wohl das Übelste sein, was zum Thema beizutragen ist. Insbesondere wenn nicht bekannt ist was wirklich abgelaufen ist.
Nicht umsonst wird das private Umfeld der angeblichen Täterinnen von Staatsanwaltschaft und Ermittler geschützt.