Indien greift nach Kaschmir
70 Jahre gab es für die Himalaya-Region weitgehende Autonomie. Das ist vorbei. Jetzt drohen Aufstände, Anschläge und ein verschärfter Konflikt zweier Atommächte.
Die Hausboote am malerischen Dal-See in Kaschmir sind verlassen. Statt der Touristen sind hier nun Soldaten unterwegs. Wo sonst Urlauber Selfies machen, ist alles wie ausgestorben. Internet- und Telefonverbindungen sind gekappt, Schulen, Geschäfte und Behörden geschlossen. Aus Angst bleiben die Menschen lieber daheim.
Mit ein paar Zeilen wurde am Montagmorgen das seit mehr als 70 Jahren umstrittene Kaschmir-Tal offiziell ein Teil von Indien. Präsident Ram Nath Kovind veröffentlichte eine kurze Verordnung, die dann dem Parlament in New Delhi präsentiert wurde. Damit wird der Artikel 370 der indischen Verfassung, der Kaschmir bislang einen weitreichenden Sonderstatus gewährte, ersatzlos gestrichen. Es ist eine der folgenreichsten Änderungen seit der Unabhängigkeit Indiens 1947. In der Volksvertretung kam es zu Tumulten.
Kurz nach Mitternacht hatte Indien für das von ihm kontrollierte Gebiet ein Versammlungsverbot verhängt. Drei wichtige Politiker wurden unter Hausarrest gestellt. Gleichzeitig wurden 8000 Angehörige paramilitärischer Truppen eingeflogen, nachdem schon vergangene Woche 38.000 zusätzliche Kräfte im Tal stationiert worden waren.
Der Schritt dürfte weitreichende Folgen haben
Der Schritt Indiens hat weitreichende Folgen – auch auf internationaler Ebene. Pakistan und Indien streiten sich seit 1947 um die Himalaya-Region, die beide Atommächte für sich beanspruchen. Als inoffizielle Grenze gilt die Waffenstillstandslinie von 1949, wonach Pakistan etwa ein Drittel des Gebietes und Indien etwas mehr als die Hälfte des früheren Fürstentums Jammu und Kaschmir kontrollieren.
Drei Kriege haben die beiden verfeindeten Nachbarn bereits um Kaschmir geführt. Da die Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist, beansprucht Pakistan das Gebiet für sich. Indien hingegen vertritt die Auffassung, das Tal gehöre zu Indien, da der frühere Fürst den Anschluss an Indien gewünscht habe. Bemühungen, den Konflikt zu entschärfen, sind stets gescheitert. Erst Ende Februar lieferten sich Indien und Pakistan in Kaschmir kriegerische Auseinandersetzungen.
Pakistan kritisiert Entscheidung scharf
Pakistan verurteile die Ankündigung Neu-Delhis auf das Schärfste, erklärte das Außenministerium in Islamabad. Die Region sei international als umstrittenes Gebiet anerkannt, und kein einseitiger Schritt Indiens könne dies ändern. Das Land werde die Menschen im „besetzten Jammu und Kaschmir“ bei ihrem Recht auf Selbstbestimmung unterstützen. Indiens Entscheidung verletze die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates und sei „illegal“.
„Heute ist der dunkelste Tag für die indische Demokratie“, schrieb die unter Hausarrest gestellte kaschmirische Politikerin Mehbuba Mufti. Die Entscheidung der Zentralregierung sei „illegal und verfassungswidrig“. De facto werde nun Indien zu einer Besatzungsmacht in Kaschmir. Und der frühere Ministerpräsident des Bundesstaates Jammu und Kaschmir, Omar Abdullah, warnte vor den „gefährlichen Folgen“ der Entscheidung.
Hingegen feierte Indiens hindunationalistische Regierung den Schritt als überfällig. Der ehemalige Finanzminister Arun Jaitley erklärte, damit sei nun ein „historischer Fehler korrigiert“ worden. Die Präsidialentscheidung zur Verfassungsänderung soll später dem Parlament vorgelegt werden, wo die Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi über eine komfortable Mehrheit verfügt. Die Partei hatte bereits 2014 versprochen, den Kaschmir-Status zu verändern und das Gebiet mit seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung ganz im mehrheitlich hinduistischen Indien aufgehen zu lassen.
Die Machtbalance in der ganzen Region verändert sich
Das alles passiert vor dem Hintergrund einer sich verändernden Machtbalance. Die USA verhandeln mit den Taliban über ein Friedensabkommen in Afghanistan. Präsident Donald Trump will die US-Soldaten so rasch wie möglich vom Hindukusch abziehen. Damit wird in der Region die Stellung von Pakistan gestärkt, das gute Beziehungen zu den Taliban unterhält. In letzter Zeit hatte Trump mehrmals erklärt, er wolle helfen, den Kaschmir-Konflikt zu lösen. Indien lehnt dies jedoch entschieden ab. Mit der Abschaffung des Sonderstatus zieht Indien Kaschmir fest in seinen eigenen Machtbereich. Es signalisiert so, dass es den Status quo festigen will und nicht vor hat, auf Angebote von Trump einzugehen, über Kaschmir zu verhandeln und dabei Zugeständnisse an Pakistan zu machen. Nun wird befürchtet, dass es zu Aufständen, Protesten und Terrorattentaten in Kaschmir, aber auch neuen Anschlägen in Indien kommen wird.
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