Hitler und wir
70 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges sterben die Zeitzeugen allmählich aus. Jetzt ist es an uns, den Nachgeborenen, das eigene Verhältnis zur deutschen Vergangenheit zu klären. Von Markus Günther
"Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen." Wie entsetzlich vertraut dieser Satz ist. Man hat ihn hundertmal gehört. Wir, die Nachgeborenen, wissen viel über den Zweiten Weltkrieg. Aber wissen wir auch das Richtige? Haben wir die Geschichte richtig verstanden? Vermutlich nicht. Das zeigt schon ein einfaches Beispiel: Überall ist in diesen Tagen wieder vom "Blitzkrieg" die Rede, davon, dass Polen in drei Wochen praktisch "überrannt" wurde. Das klingt, als wäre der Krieg, wenig-stens in der Anfangsphase, ein deutscher Erfolg gewesen, weitgehend verlustfrei und dabei recht zivilisiert geführt. Doch mit der unreflektiert übernommenen Rhetorik vom "Blitzkrieg" gehen wir der Nazi-Propaganda noch heute auf den Leim. Richtig ist: Schon der Kriegsbeginn war in jeder Hinsicht verheerend. Mindestens 16 500 deutsche Soldaten fielen gleich in den ersten Kriegswochen. Die Zahl der gefallenen Polen wird auf 70 000 geschätzt. Hinzu kommen 60 000 polnische Zivilisten, die schon in den ersten Kriegsmonaten vom berüchtigten "Sicherheitsdienst" ermordet wurden. Der Zweite Weltkrieg war vom ersten Tag an ein Gemetzel, ein totaler zivilisatorischer Zusammenbruch.
Die Liste der Missverständnisse und Ungenauigkeiten ließe sich fortsetzen, historische Unschärfen und vage Halbbildung sind weit verbreitet. Viele glauben heute, der Beginn des Zweiten Weltkrieges sei von den Deutschen bejubelt worden. Das stimmt nicht. Am 1. September 1939 gab es in Deutschland keine Kriegsbegeisterung. Die Menschen, stellte die Gestapo frustriert fest, waren trotz aller Propaganda misstrauisch und ängstlich. Ein anderes Beispiel: Manche glauben immer noch, die Wehrmacht habe mit Verbrechen an der Zivilbevölkerung nichts zu tun gehabt. Auch das stimmt nicht; viele (aber keinesfalls alle) Soldaten waren schon zu Beginn des Krieges an Greueltaten beteiligt.
Wir wissen über den Krieg viel und wenig zugleich
Schwerer noch als manches Missverständnis wiegt, was bis heute im historischen Rückblick stark unterbelichtet ist: die Verfolgung von "kleineren" Minderheiten im Dritten Reich, also etwa von Schwulen, Zeugen Jehovas, Mormonen, Kommunisten, Katholiken, "Arbeitsscheuen", Behinderten, Geisteskranken. Deutsche waren Täter und Deutsche waren Opfer; es gab Eiferer, Mittäter, Mitläufer, innere Emigranten, Widerständler. Pauschal, also mit Blick auf größere Bevölkerungsgruppen, lässt sich das nie genau sagen; jede einzelne Biografie war anders und nicht selten voller innerer Widersprüche.
Man könnte auch sagen: Wir wissen über Hitler und den Zweiten Weltkrieg viel und wenig zugleich. Viele Jüngere beklagen sich heute, sie hätten sich in der Schule bis zum Überdruss mit Hitler und Holocaust herumschlagen müssen, es komme ihnen zu den Ohren wieder raus. Das stimmt wahrscheinlich. Aber im Kopf und im Herzen ist die historische Lektion dennoch nicht richtig angekommen - vielleicht auch gerade weil diese Geschichte mit solch einer sturen Verbissenheit eingepaukt wird.
In dem Maße, in dem der zeitliche Abstand zur deutschen Diktatur gewachsen ist, ist auch die innere Distanz zu unserer eigenen Geschichte immer größer geworden. Fast scheint es, als hätten wir heute mit dieser Geschichte nichts mehr zu tun. Wir sind sozusagen doppelt unschuldig: Erstens, weil wir damals ja gar nicht gelebt haben, und zweitens, weil wir selbst ja immer schon gegen die "Nazis" waren. Wie selbstverständlich identifizieren sich viele junge Deutsche heute mit Opfern und Widerständlern. Das ist gut gemeint. Aber es ist, psychologisch betrachtet, auch der problematische Versuch, sich in die Opferrolle hineinzumogeln und moralische Verantwortung abzuschütteln. "Antifaschismus" kann so zur ideologischen Hängematte werden, in der man es sich bequem macht. Man erobert moralische Überlegenheit, indem man Schuld und Verantwortung einfach den "anderen" zuschiebt. So hat die DDR es ganz offiziell gemacht. Aber auch im wiedervereinigten Deutschland betreiben manche eine moderne Art des mittelalterlichen Ablasshandels: Wer dem "Antifaschismus" huldigt, bekommt die Absolution erteilt. Wer nicht mitmacht, ist dagegen verdächtig.
"Waren wir das - oder nur unsere Eltern und Großeltern?"
Es ist schon wieder mehr als 20 Jahre her, dass Christian Meier, ausgerechnet ein fachfremder Historiker, der auf Antike Geschichte spezialisiert ist, seinen Kollegen vom Fach Zeitgeschichte die immer vernachlässigte Frage diktierte: "Waren wir das, also das deutsche Volk - oder nur unsere Eltern und Großeltern (die inzwischen tot oder an der Schwelle des Todes sind), das deutsche Bürgertum (…), ,der Faschismus', nur ein paar Verbrecher unter uns (in einer im Ganzen anständig gebliebenen Nation), oder war es gar nur Hitler?" Die Frage ist heute immer noch genauso aktuell und genauso unbeantwortet wie 1986. Denn Hitler war ja kein Außerirdischer; er war einer von uns. Die "Nazis" waren keine fremde Macht, die über Deutschland hergefallen ist; die "Nazis", das waren ganz normale Deutsche, das waren - vielleicht muss man das Banale einfach einmal aussprechen: - Menschen wie du und ich. Deshalb ist die Frage, wie es dazu kommen konnte, wie ein solcher Absturz in die menschenverachtende Barbarei möglich war, bis heute eine beunruhigende, bedrängende Frage. Wer dagegen für sich in Anspruch nimmt, er hätte natürlich nicht mitgemacht, sondern Widerstand geleistet - der macht es sich zu leicht und verkennt die historische Tatsache, dass Millionen junger Männer gar keine andere Wahl hatten, als in den Krieg zu ziehen, der heute vor 70 Jahren begann.
Mit dem Krieg entstand eine "entmenschte Welt", wie Joachim Fest das einmal nannte. Das reflexhafte "Nie wieder!" ist im Kern die richtige Reaktion, der natürliche Impuls auf diese "entmenschte Welt", aber das darf nicht heißen, Eltern und Großeltern einfach zu verteufeln und sich selbst auf der richtigen Seite der Geschichte zu wähnen.
Es geht viel weniger darum zu verurteilen, als zu verstehen. Man muss sich diese Geschichte neu aneignen, man muss sie annehmen wie einen schrecklichen Teil der eigenen Familiengeschichte, an der man selbst zwar unschuldig ist, für die man sich aber doch in einem ganz persönlichen Sinne verantwortlich fühlen muss.
Es geht viel weniger darum zu verurteilen, als zu verstehen
Dazu gehört, selbst an dem Schmerzhaften dieser Geschichte zu leiden, mit den Opfern zu sympathisieren und die Täter in ihrer Verführung und Verwirrung verstehen zu wollen. Der Augsburger Bertolt Brecht hat uns Nachgeborenen das beste Motto für den ehrlichen, schmerzhaften, mitleidenden Blick auf die deutsche Geschichte mitgegeben: "Gedenket, wenn Ihr von unseren Schwächen sprecht, auch der finsteren Zeit, der Ihr entronnen seid. Gedenket unserer mit Nachsicht."
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