Boxer, Rebell, Großmaul: Muhammad Ali war ein ganz Großer
Muhammad Ali war ein Schwergewicht. Im Boxring, als politischer Rebell, als Großmaul. Sein Gesicht galt über vierzig Jahre lang als das bekannteste der Welt.
Plötzlich war das Fahrrad weg. Das schöne rote Fahrrad, nagelneu. Muhammad Ali war zwölf und hieß noch Cassius Clay, sein „Sklavenname“, wie er ihn später nannte. Er hatte fortan nur ein Ziel: Den Dieb prügelst du windelweich.
Vom Polizisten, dem er sein Leid klagte, bekam er den Tipp, es doch mit Boxtraining zu versuchen. Sechs Jahre später war Cassius Clay Olympiasieger, weitere vier Jahre darauf Schwergewichts-Weltmeister bei den Profis nach einem sensationellen Sieg gegen Sonny Liston. Für ihn stand nun fest: „I am the Greatest“ – ich bin der Größte. Der weißen amerikanischen Gesellschaft war dieses schwarze Großmaul zuwider. Zumal Ali in diesem Jahr zum Islam übertrat. Doch er war ganz oben. Und hatte sein rotes Fahrrad vergessen.
Das war der eine Ali. Die Legende. Derjenige, für den hierzulande der Wecker klingelte, wenn zur besten Sendezeit in Amerika der Gong im Boxring ertönte. Seit 1996 war Muhammad Ali auch der berühmteste Kranke der Welt. Seit er mit zitternden Händen in Atlanta die olympische Flamme entzündete und 85000 Besucher im Olympiastadion von Atlanta sowie ein Milliarden-Publikum vor den Bildschirmen zu Tränen rührte.
„Ali entfachte ein Buschfeuer seiner wiedergewonnenen Popularität“
Es war ein emotionales Comeback aus dem Schatten seines Schicksals. Die fast schon in Vergessenheit geratene Ikone war zur großen Überraschung wie aus dem Nichts auf den eigenen Olymp zurückgekehrt, gekleidet in einen weißen Trainingsanzug. „Ali entfachte ein Buschfeuer seiner wiedergewonnenen Popularität“, schrieb die Zeitung USA Today und kürte ihn zum „Athleten des Jahres“. „Ali, Ali“, dröhnte es durchs Stadion, als hätte er Liston, Frazier und Foreman zusammen mit einem Schlag niedergestreckt. Ein Kameraschwenk zeigte einen weinenden Präsidenten Bill Clinton. Zur Eröffnungsfeier der Spiele von Los Angeles zwölf Jahre zuvor war Ali nicht einmal eingeladen worden, obwohl er von seinem Anwesen am Wilshire Boulevard zu Fuß ins Olympiastadion hätte gehen können. „Die denken, ich bin ein blöd geschlagener Boxer“, sagte ein bereits lethargischer Ali damals seinem deutschen Besucher.
Und dann dieser Moment 1996. Zu jenem Zeitpunkt kämpfte der Mann schon mindestens zwölf Jahre lang gegen die Parkinson-Krankheit. Am Ende waren es mindestens 32. Er kämpfte mit Würde und Demut. Schicksalsergeben. Am Freitag hat der größte Athlet in der Geschichte des Sports den Kampf gegen die heimtückische Nervenkrankheit verloren, wurde erlöst von einem Leiden, das ihm im letzten Drittel seines dramatischen Lebens nahm, was ihn einst weltberühmt gemacht hatte: seine Athletik und seine Sprache. Muhammad Ali starb in einem Krankenhaus in Phoenix, Arizona. Der dreimalige Boxweltmeister wurde 74 Jahre alt. Er hinterlässt Ehefrau Lonnie und neun Kinder. Die Trauerfeier ist am Freitag in seiner Heimatstadt Louisville im US-Bundesstaat Kentucky.
Unvergessen sind die Dramen im Ring, die Jahrhundertkämpfe in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Der „Fight of the Champions“ 1971, den Ali gegen Joe Frazier im New Yorker Madison Square Garden – mit einem schweren Niederschlag in der letzten Runde – nach Punkten verlor, weil ihm in der langen Zwangspause der tänzerische Stil abhandengekommen war. Beim „Rumble in the Jungle“ 1974 in Kinshasa holte sich Ali den Titel zurück. Mit einer neuen Seiltaktik ermüdete er George Foreman und schlug ihn in der achten Runde k.o.
Ali mit Comeback im Herbst 1980
Beim „Thrilla in Manila“ ein Jahr später, der brutalsten und epischsten Schlacht der Boxgeschichte, durfte Frazier auf Geheiß seines Trainers Eddie Futch zur letzten Runde nicht mehr antreten. „Der nächste Schlag hätte tödlich sein können“, entschied der weise Mann. Ein völlig ausgezehrter Ali stöhnte: „Es war wie der Tod. Ich habe erfahren, was dem Sterben am nächsten kommt.“
Beim Comeback im Herbst 1980, zwei Jahre nach seiner Rücktrittserklärung, wurde der 38-jährige Ex-Champion von seinem einstigen Sparringspartner Larry Holmes derart verprügelt, dass sein legendärer Trainer Angelo Dundee unter Tränen das Debakel nach der zehnten Runde beendete. Kurz nach dieser Demütigung im Caesars Palace von Las Vegas bemerkten Freunde, dass Alis Hände leicht zitterten und er langsamer sprach, manchmal auch schon nuschelte. Dennoch folgte ein Jahr später das „Drama in Bahama“, die entwürdigende Niederlage gegen einen gewissen Trevor Berbick. Der endgültig letzte Kampf mit knapp 40 Jahren dann am 11. Dezember 1981. Die beiden Niederlagen waren die vierte und fünfte in 61 Kämpfen.
Alis letzter großer öffentlicher Auftritt bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2012 in London war erschütternd und hat Milliarden vor den Fernsehgeräten und 79000 Zuschauer im Stadion zutiefst bestürzt. Der größte Boxer aller Zeiten, einst Inbegriff des athletischen Körpers und wachen Geistes, saß gebrechlich auf einem Stuhl, als die olympische Fahne ihn erreichte. Im weißen Anzug, gebeugt, spindeldürr, das Gesicht mit der schwarzen Sonnenbrille eine Maske, konnte der Olympiasieger von 1960 nur unter Aufbietung der letzten Kräfte aufstehen und, gestützt auf seine vierte Ehefrau Lonnie, die anderen Fahnenträger ein Stück begleiten. Seine Frau flüsterte ihm immer wieder ins Ohr, das Tuch anzufassen und dem Publikum zuzuwinken. „Muhammad liebt das Bad in der Menge und ist so überwältigt“, sagte Mrs. Ali anschließend.
War Ali wirklich „the Greatest“?
War Ali wirklich „the Greatest“? Die Welt am Sonntag zitiert gestern einen Dialog mit seinem Freund, dem Fotografen Howard Bingham. „Howard“, fragte Ali, „was glaubst du: Wenn ich auf der einen Seite der Straße gehe und Joe Frazier und George Foreman auf der anderen – zu wem rennen die Leute?“
Bingham: „Zu dir.“
Ali: „Aber was, wenn der Kerl auf der anderen Seite Jesse Jackson ist, unser großartiger Bürgerrechtler?“
Bingham: „Sie gehen zu dir.“
„Und wenn es Elvis Presley wäre?“
„Champ“, sagte Bingham, „um ehrlich zu sein: Gegen Elvis könnte es eng werden.“ Worauf Ali kurz nachdachte und dann sagte: „Okay, ich könnte die Leute in dem Fall verstehen – wann trifft man schon einen Toten.“
Der charismatischste aller Boxchampions war sein Leben lang Superstar, ob einst als tänzelnder Boxästhet, narzisstischer Schreihals, schwarzer Rebell, überzeugter Wehrdienstverweigerer („Ich habe keinen Streit mit dem Vietcong“) oder als schwer kranker Mann. Geboren am 17. Januar 1942 in Louisville und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, galt sein Gesicht über vierzig Jahre hinweg als das bekannteste der Welt. Muhammad Ali bleibt auf dem Globus für ewig eine Legende, ein Mythos, war mehr als nur ein Boxchampion. Staatsoberhäupter fühlten sich durch seinen Besuch geehrt. Uno-Generalsekretär Kofi Annan ernannte ihn zum Friedensbotschafter der Vereinten Nationen. Präsident George W. Bush hängte ihm 2005 im Weißen Haus die Freiheitsmedaille um, die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten, und nannte Ali einen „Mann des Friedens“.
Als Pazifist hatte Muhammad Ali einst das weiße Amerika empört
Vierzig Jahre zuvor war das unvorstellbar gewesen. Als Pazifist hatte Muhammad Ali einst das weiße Amerika empört, als er am 28. April 1967 im Rekrutierungsbüro 61 der United States Armed Forces in Houston, Texas, den Wehrdienst verweigerte, die Aberkennung des Titels, den Lizenzentzug, den Verlust von Millionen Dollar und die Verurteilung zu fünf Jahren Haft in Kauf nahm. Das schwarze Amerika feierte Ali wie einen Freiheitskämpfer für dessen Botschaft: „Warum verlangt man von mir, einem sogenannten Neger, eine Uniform anzuziehen und 10000 Meilen von der Heimat entfernt mit Bomben und Kugeln auf braune Menschen in Vietnam zu zielen, während andere sogenannte Neger in Louisville wie Hunde behandelt und ihnen die elementarsten Menschenrechte verwehrt werden?“
Erst drei Jahre später hob der Oberste Gerichtshof das Urteil auf und erklärte den Lizenzentzug für Unrecht. Muhammad Ali kehrte aus der Verbannung in den Ring zurück, zum berühmtesten Comeback des Sports. Dieser außergewöhnliche Mensch hatte nicht nur Sonny Liston, sondern auch „eine Gesellschaft besiegt, die einen selbstbewussten afroamerikanischen Sportler nicht ertragen konnte“, sagte der deutsche Mäzen und Sozialforscher Jan Philipp Reemtsma 2005, als Ali von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen die Otto-Hahn-Friedensmedaille in Gold verliehen bekam. Reemtsma war damals Laudator.
Ali, der strenggläubige Muslim, hat einmal über sein Schicksal gesagt: „Ich habe nie gefragt: Warum ich? Ich bin mit so viel Gutem gesegnet. Gott prüft mich.“ Und jedem, der sein Leiden auf das Boxen zurückführte, den belehrte er: „Schließlich haben nicht alle an Parkinson erkrankten Menschen geboxt. Richtig?“ mit dpa
Der Autor hat das Leben Muhammad Alis etwa 50 Jahre lang begleitet, 15 von dessen 61 Kämpfen (zwölf um die WM), darunter die drei Jahrhundertereignisse, live am Ring miterlebt, hat ihn nach seiner Karriere als Kranken über ein Dutzend Mal privat getroffen und ist einer der Autoren des Buches „GOAT – Muhammad Ali“.
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