Sportsucht: Das extreme Verlangen nach Bewegung
„Sportsucht“ ist zwar kein Massenphänomen, aber für den Betroffenen kann sie gefährlich werden.
Gerade jetzt im Frühjahr beginnen viele ein intensives Sportprogramm. Doch der Drang zu mehr Fitness kann ausufern: Auch Sport kann zur Sucht werden. „Die Symptomatik ist ähnlich zu anderen Süchten: Es gibt Entzugssymptome, die Betroffenen werden aggressiv und unruhig“, sagt der Sportpsychologe Heiko Ziemainz von der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie versuchen alles, um Sport treiben zu können und vernachlässigen ihr soziales Umfeld. Auch Fehlzeiten im Job seien möglich, ergänzt Ziemainz. Weitergemacht werde um jeden Preis, auch wenn der Körper rebelliere.
Es gibt Einzelfälle, bei denen eine Ferse bis auf den Knochen runtergelaufen wurde. Einen einheitlichen Kriterienkatalog gibt es nicht, ab wann beim Sport von Sucht zu sprechen ist, wird noch diskutiert. Die Grenzen sind ähnlich fließend wie bei vielen der sogenannten Verhaltenssüchte.
Der Körper wird zur Höchstleistung gezwungen
Im Gegensatz zu stoffgebundenen Süchten, etwa nach Alkohol, Kokain oder Heroin kommt bei einer Verhaltenssucht nichts Greifbares von außen in den Körper. Die Menschen werden stattdessen süchtig nach bestimmten Tätigkeiten: nach Einkaufen, Sex, Arbeit oder eben Sport. Es sind Süchte, die noch nicht lange wissenschaftlich diskutiert werden. Dabei liegt die Annahme, dass Sport krankhaft sein kann, recht nahe.
Sportliche Höchstleistungen sind allgegenwärtig. Man beschäftigt sich mit dem Thema, weil es für den Durchschnitt der Bevölkerung unvorstellbar erscheint, eine Distanz zu laufen, die über fünf bis zehn Kilometer hinausgeht, sagt der Sportpsychologe Ziemainz.
Oft gibt es dann die Erklärung: Der ist sportsüchtig! Ziemainz hat das Phänomen zusammen mit Kollegen bei Ausdauerathleten wie Läufern, Radfahrern und Triathleten näher untersucht. Das Ergebnis: Rund 4,5 Prozent der untersuchten Sportler waren nach Ansicht der Wissenschaftler sportsuchtgefährdet.
Wie viele davon auch wirklich eine handfeste Sucht haben, blieb offen. Ziemainz schätzt den Anteil in der Gruppe auf etwa zehn Prozent. Für die Gesamtbevölkerung kann man von weniger als einem Prozent ausgehen, sagt er. Sportsucht ist kein Massenphänomen, für die Betroffenen kann sie aber gefährlich werden. Sie laufen, radeln oder schwimmen – und können nicht mehr aufhören.
Entzugserscheinungen treten auf
Entzugssymptome, eine ständige Erhöhung der Dosis, Kontrollverlust, Verzicht auf andere Aktivitäten, hoher Zeitaufwand, Verdrängung negativer Konsequenzen – obwohl die gängigen Klassifikationssysteme die Sportsucht nicht explizit nennen, lassen sich die Merkmale substanzgebundener Abhängigkeiten aus Sicht vieler Wissenschaftler übertragen. Man kann es am besten mit einer Negativspirale beschreiben. Um aus dieser herauszukommen, ist wie bei anderen Süchten eine Therapie notwendig, sagt Sportpsychologe Ziemainz.
„Ich würde den Faktor Kompensation als entscheidend ansehen. Macht jemand Sport, weil etwas anderes im Leben nicht funktioniert? Der Sport ist dann ein nicht-funktionales Bewältigungsverhalten“, sagt Oliver Stoll, Professor für Sportpsychologie und Sportpädagogik an der Universität Halle-Wittenberg. Das ist dann sehr ähnlich zu anderen Verhaltenssüchten, etwa Kaufsucht oder der Arbeitssucht von Workaholics. Auslöser könne zum Beispiel die Trennung vom Partner sein.
Biologische Prozesse als Auslöser?
Nicht selten werden biologische Prozesse im Körper zur Erklärung der Sportsucht herangezogen, etwa Endorphine, die beim Sport ausgeschüttet werden. Stoll hält die Erklärung von den körpereigenen und süchtigmachenden Opiaten für zu einfach. „Die Entwicklung von suchthaftem Verhalten alleine über positive Verstärker zu erklären, greift zu kurz. Der Mensch ist eine bio-psycho-soziale Einheit und wird eben nicht nur durch biologische Prozesse gesteuert.“ Dies gelte auch für das sogenannte Flow-Erlebnis, von dem einige Ausdauersportler berichten. Dabei werde der präfrontale Cortex – Stoll nennt es das„Grübelorgan“ – herunterreguliert. Die Folge: Man hat das Gefühl, dass das Leben gerade recht glatt läuft.
Wie die Sucht auch genau entsteht – ist sie da, empfehlen die Experten eine Behandlung. „Ist jemand wirklich sportsüchtig, kann er eine Verhaltenstherapie machen“, sagt Professor Frank Schneider, Leiter des Referats Sportpsychiatrie und -psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). „Es wird dann beispielsweise auch ein Trainingsplan angelegt und gemeinsam überwacht. Man kann es daher nicht mit einer Alkoholerkrankung vergleichen, bei der es das Beste ist, gar keinen Alkohol mehr zu trinken. Die Menschen sollen sich ja noch bewegen.“ In der Regel seien 15 bis 20 Stunden Verhaltenstherapie notwendig.
Schneider sagt, dass ausufernde Trainingspläne oft zunächst Freunden und Bekannten auffallen. „Wir erleben es häufig, dass sich jemand aus dem Umfeld meldet, und erklärt, dass da vielleicht ein Problem vorliege. Etwa die Ehefrau oder ein Trainer“, berichtet er. Meist seien es jüngere Männer. Manche hätten schon Job und Familie verloren, weil sie alles in den Sport steckten.
Nicht jeder Hardcore-Sportler ist süchtig
Schneider warnt jedoch davor, jeden Dauerläufer als süchtig zu bezeichnen. „Eine Sucht ist eine Krankheit. Und exzessiver Sport ist in der Regel keine Krankheit. Ich würde das sehr konservativ beschreiben: Krankheit ist, was mich und die Umwelt deutlich beeinträchtigt.“ Zudem können die vielen Sportstunden Ausdruck einer anderen Erkrankung sein. In der Forschung haben sich die Begriffe primäre und sekundäre Sportsucht etabliert. Während bei einer primären Sportsucht der Sport Selbstzweck ist, steckt bei einer sekundären eine andere Absicht dahinter – etwa, Gewicht zu verlieren. Sie tritt häufig in Verbindung mit einer Essstörung auf.
Warum das Phänomen erst seit drei bis vier Jahrzehnten beschrieben und diskutiert wird, beschäftigt den Sportsoziologen Robert Gugutzer. „Man muss den kulturellen Rahmen betrachten.“ Nach Ansicht des Professors an der Uni Frankfurt hat die westliche Gesellschaft seit den siebziger Jahren eine „Versportung“ erlebt. Das profane Laufen wurde zum Joggen, Marathon zum Volkssport und die Fitnessstudios bekamen ein anderes Publikum.
„Über Bodybuilder hat man früher gelästert. Da hieß es nicht: Der macht etwas für seinen schwachen Rücken“, erinnert sich Gugutzer. Mittlerweile aber hat die Arbeit am eigenen Körper einen anderen Ruf. Man muss sich fast schon rechtfertigen, wenn man nichts für die Gesundheit tut, meint Gugutzer. „Dass es einen Zusammenhang zwischen der Versportung der Gesellschaft und dem Aufkommen der Sportsucht gibt, ist sehr wahrscheinlich.“
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