Der Deutsche Evangelische Kirchentag wird politisch
Der Kirchentag in Stuttgart wird politisch. Bis zu 250 000 evangelische Christen diskutieren über die Lage der Welt. Und auch über die Haltung von Jesus zum Hauptbahnhof.
Alles hängt mit allem zusammen, und wohin man blickt: Es kriselt. Iran, Irak, IS. Erderwärmung, Entwicklungsländer, Ebola. Wenn die Staats- und Regierungschefs am Sonntag auf Schloss Elmau zum G-7-Gipfel zusammenkommen, werden sie die ganz großen Themen diskutieren – als großes Ganzes. Ein bisschen wird das so auch in Stuttgart sein, wenn dort morgen der Deutsche Evangelische Kirchentag beginnt.
Krisen, Kriege, Kirchenthemen werden das Treffen protestantischer Laien an den fünf Tagen bis einschließlich Sonntag bestimmen und Stoff für Diskussionen und Streit bieten. Ob den dann die Bibelarbeiten und Gottesdienste abmildern? Und ob all die Konzerte, die Tanz- und Theaterveranstaltungen die bis zu 250 000 erwarteten Besucher in Feierlaune versetzen? Abwarten: Kirchentage – ob evangelische, katholische oder ökumenische – entwickeln schnell eine Eigendynamik.
Vor allem aber drohen sie, vollends unübersichtlich zu werden: Alleine das Programmheft dieses 35. Deutschen Evangelischen Kirchentags hat 620 Seiten und listet mehr als 2500 Veranstaltungen auf. Dazu passt das biblische Leitwort: „damit wir klug werden“. Ein Motto, mit dem im Vorfeld nicht jeder etwas anzufangen wusste. Und das zu Wortspielen einlädt. So hat der Stuttgart-21-Gegner Matthias von Herrmann, Pressesprecher der „Parkschützer“, bereits eine Großdemonstration am 6. Juni vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof angekündigt: „Aus Stuttgart 21 klug werden: oben bleiben!“
Stuttgart 21: "Jesus würde oben bleiben"
Zudem wollen die Aktivisten tausende Aufkleber verteilen mit dem Spruch: „Jesus würde oben bleiben“ – also sich gegen den umstrittenen Umbau des oberirdischen Kopfbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof entscheiden.
Die Stuttgarter Zeitung kommentierte: „In Stuttgart hat die Hölle einen neuen Namen bekommen, sie heißt dort Tiefbahnhof.“ Während des Evangelischen Kirchentags solle es wohl zu einem „Kreuzzug gegen das Böse“ kommen. Das Bahn- und Bauprojekt Stuttgart 21 jedenfalls spielt keine Rolle im Programm, es war aber der Grund dafür, die Landeshauptstadt Baden-Württembergs als Kirchentagsort zu wählen. Die Stadt habe, so hieß es 2011, „im Streit um das Projekt ,Stuttgart 21‘ neue Formen offener und öffentlicher Debatten erlebt“. Nachhaltiger Protest und zivilgesellschaftliches Engagement hätten eine Diskussion über die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Entscheidungen in der Demokratie ausgelöst.
Dass der Kirchentag ein außerordentlich politischer wird, ist der Weltlage geschuldet, die sich vielfach im Programm widerspiegelt. Auf dem Cannstatter Wasen, wo sich sonst im Frühjahr und Herbst Volksfestbesucher vergnügen, und in der benachbarten Hanns-Martin-Schleyer-Halle wird die deutsche und internationale Polit-Prominenz erwartet. Bundespräsident Joachim Gauck wird über das Zusammenspiel von Politik und Gesellschaft reden, Kanzlerin Angela Merkel über „Demokratie und Daten“. Der Auftritt könnte spannend werden nach den jüngsten Zuspitzungen in der NSA-Abhöraffäre. Ihr Innenminister Thomas de Maizière (CDU) stellt sich der Frage „Wer kontrolliert wen? Demokratie und die Macht der Datensammler“.
"Kirchentag in Zeiten, die so brutal, so kriegerisch sind, wie schon lange nicht mehr"
„Wir steuern zu auf einen Kirchentag in Zeiten, die so brutal, so kriegerisch sind, wie schon lange nicht mehr“, sagte Kirchentagspräsident Andreas Barner bei der Vorstellung des Programms. „Die Welt ist aus den Fugen“, heißt der Hauptvortrag dazu, über den der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) diskutieren wird.
Kontrovers zugehen dürfte es auch bei allem, das um „sexuelle Vielfalt“ kreist: von der Homo-Ehe bis zum Bildungsplan der Landesregierung für die Schulen, bei dem es um die Aufwertung des Themas Homosexualität geht. Unter dem Titel „Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ hatten Gegner vor einer „pädagogischen, moralischen und ideologischen Umerziehung an den allgemeinbildenden Schulen“ gewarnt und eine Internet-Initiative gestartet, der sich Hunderttausende anschlossen – darunter zahlreiche evangelikale Christen und Pietisten.
Die Kirchentags-Losung „damit wir klug werden“ stammt übrigens von Psalm 90,12: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
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