Musikerleben im Maschinenraum: "Novecento" im Sensemble Theater
Das Sensemble Theater eröffnet die Spielzeit mit "Novecento". Olaf Dröge überzeugt in dem magischen, rasanten Ein-Mann-Stück über ein Findelkind auf einem Ozeandampfer in vielen Rollen.
Er war ein genialer Klavierspieler. Damals, auf der „Virginia“. Auf dem Flügel dort im Ballsaal der ersten Klasse war er im Jahr 1900 als Säugling abgelegt worden. Ausgesetzt von Auswanderern des Unterdecks. Sie waren – wie die Passagiere der ersten und zweiten Klasse - mit dem riesigen Dampfer von Europa nach Amerika gefahren. Es mussten Auswanderer gewesen sein, sinniert der Trompeter Tim Tooney (Olaf Dröge). Für die Auswanderer bedeutete ein weiteres Kind Stress im ohnehin komplizierten Einwanderungsprozess. Also legten sie in ihrer Not den zehn Tage alten Säugling auf dem Flügel im Ballsaal ab. Eine reiche Familie würde ihn dort finden und er würde glücklich aufwachsen. Doch keine Reichen, sondern Danny, der Matrose, ein Mann wie ein Schrank mit einer tiefen, kratzigen Stimme, fand ihn.
Danny versteckte das Kind im Maschinenraum und gab ihm den Namen Novecento, neunzehnhundert. Als Danny acht Jahre später stirbt, wird der Junge erstmals an Deck des Schiffes gehört: Am Klavier im Ballsaal. Ein Genie. Tim erzählt die Geschichte des Jungen, der nie an Land ging. Den er in den Gängen des Dampfers kennenlernte, wo er noch bei größtem Orkan wie eine Eins geradeaus laufen konnte. Der die reichen Damen und sogar den soldatischen Kaptän zu Tränen rühren konnte mit seinem Spiel. „Schwerelos wie Schmetterlinge“ gleiten seine Finger über die Tasten, berichtet Tim.
Wolfgang Lackerschmid liefert Livemusik zu "Novecento" im Sensemble Theater
Die Studiobühne des Sensemble-Theaters ist gut ausverkauft zur Premiere von „Novecento“. „Novecento“ ist ein Musiktheaterstück des Musikwissenschaftlers und Autors Alessandro Baricco. In der Regie von Jörg Schur hat das Sensemble ein Ein-Mann-Stück mit Livemusik von Wolfgang Lackerschmid daraus gemacht. Im kleinen Raum der Studiobühne ist alles ganz nah, fast meint man, den Maschinenraum riechen, den riesigen Dampfer auf seinem Hin und Her zwischen den Kontinenten hören zu können. Links der Bühne steht ein offenes, auf seine Kurzseite gekipptes Klavier, Saiten und Eingeweide liegen bloß. Mit seinen Nischen zwischen Fußraum, Tasten-Panel und Aufbau dient es als Maschinenraum, Versteck, als Schiffswand, Ausguck und Rückzugsraum. Rechts von ihm Vibraphon und Schlagzeug, die beinah ein Stück im Stück performen. Lackerschmid jagt die vier Schlägel über die Metallplatten, bringt den Sound des genialen Ozeanpianisten zum Klingen, während der Trompeter Tim schildert, wie der Ballsaal tobt, wenn Novecento in die Tasten haut.
Die Figuren – den grimmigen, liebevollen Danny, den nachdenklichen, gelenkigen Trompeter Tim, den uniform-korrekten, brüllenden Kapitän, den Showmaster, den empfindsamen Pianisten und den großen „Erfinder des Jazz“ – spielt Olaf Dröge. Mit großer Wandlungsfähigkeit hält er den Spannungsbogen, wechselt im Stakkato geschmeidig Gesicht und Rollen, plaudert, brüllt und reflektiert ohne zu deklamieren. Der bärige Matrose ist genauso überzeugend wie die inneren Monologe von Tim, der überlegt, warum sein Freund so ist wie er ist, und warum er weiß, wie London riecht, obwohl er noch nie dort war. Behände springt er auf das Klavier, ahmt im großen Sturm das Schaukeln des Schiffs nach, windet sich akrobatisch um die Ecken und Kanten des Klaviers.
Novecento ist eine anrührende Geschichte über Freundschaft, Leidenschaft und ein Genie, dessen Heimat ein Schiff ist – bis es verschrottet wird.
Nächste Vorstellungen am 6. und 7. Oktober
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