
Für Kinder kann man alles schreiben


In norwegischen Bilderbüchern zeigt sich der Respekt für den Blick der Jüngsten auf die Welt. Staatliche Förderung schafft Freiräume und literarische Vielfalt
Wenn die norwegische Bestsellerautorin Maja Lunde mit einem Buch beginnt, denkt sie zunächst nicht so sehr an ihre Zielgruppe, sondern versucht eine Sprache zu finden für ihre Hauptfigur. Die kann dann durchaus erst zehn Jahre alt sein, wie Gerda, die zusammen mit ihrem Bruder zwei jüdischen Kindern bei der Flucht vor den Nazis hilft.
Was hierzulande eher unbekannt ist: Die Verfasserin des Mega-Bestsellers „Die Geschichte der Bienen“ war in ihrer Heimat zunächst eine erfolgreiche Kinder- und Jugendbuchautorin, bevor sie ein Star der Belletristik wurde. Zum Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse wurde nun ihr erstes Kinderbuch „Über die Grenze“ aus dem Jahr 2012 ins Deutsche übersetzt. „Ich unterscheide nicht zwischen Erwachsenen- und Kinderbüchern, beides ist Fiktion, beides ist Literatur“, stellt sie klar. Und damit ist sie in ihrem Land nicht die einzige – man denke nur an Jostein Gaarder, der 1993 mit seinem philosophischen Jugendroman „Sophies Welt“ den Blick auf die norwegische Kinder- und Jugendliteratur lenkte, oder an den Krimiautor Jo Nesbö mit seiner erfolgreichen „Doktor Proctor“-Reihe.
Die fehlende Scheu,Tabuthemen anzusprechen
Daraus allerdings einen besonderen Stellenwert der Literatur für den Nachwuchs herauszulesen, hält Ines Galling aber für gewagt. Sie ist Lektorin für skandinavische Literatur in der Internationalen Jugendbibliothek in München und von daher auf der Buchmesse eine gefragte Expertin. Was sie der norwegischen Kinderliteratur aber zuschreibt, das ist der Mut zur Avantgarde, die sich in ungewöhnlichen Erzählformen und ausgefallenen Illustrationen äußert. Auch die Lust an Komik, Nonsens und Fabulierfreude sowie fehlende Scheu, Tabuthemen anzusprechen, sind in der norwegischen Kinder- und Jugendliteratur ausgeprägt. „Es gibt nichts, worüber wir nicht mit unseren Kindern sprechen können, deshalb können wir auch alles für sie schreiben“, sagt Maja Lunde. Für Ines Galling ist es vor allem die Haltung des Respekts, die sich in der norwegischen Kinder- und Jugendliteratur zeigt: „Kinder leben in Norwegen unter freieren Bedingungen und ihr Blick auf die Welt, auch ihre Anarchie, werden respektiert“. Büchern für sie fehle deshalb der didaktische und pädagogische Ton.
Befördert wird diese Experimentierfreude norwegischer Kinder- und Jugendbuchautoren durch Staats-Unterstützung: Von jedem norwegischen Buch erhalten die Bibliotheken des Landes ein Exemplar. Das schafft Freiräume und erzeugt literarische Vielfalt.
„Das Bilderbuch ist besonders stark, da hat jeder seine unverwechselbare Handschrift und nutzt die Möglichkeiten des Mediums“, stellt Ines Galling fest. Beliebt auch bei uns ist etwa die „Böckchenbande“ mit ihren Abenteuern in mittlerweile drei Bänden. Das Volksmärchen mit den drei Böckchen und dem Troll bürstet Autor Bjorn F. Ovik gegen den Strich, und die Illustratorin Gry Moursundin gibt dem mit ihren Buntstiftkritzeleien eine wilde Anmutung.
Eine Barfrau undein Seemann
Top-Star der norwegischen Illustratoren-Szene ist derzeit Oyvind Torseter. Er schreibt und zeichnet eigene Geschichten, illustriert aber auch andere Autoren. 2018 wurde er für seine Graphic Novel „Der siebente Bruder“ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, jetzt ist er mit seinem neuen Buch „Hans sticht in See“ auf den Podien in Frankfurt unterwegs.Waren seine beiden skizzenartig hingeworfenen Hauptfiguren im Vorgängerband noch Prinz und Prinzessin, so sind sie jetzt Seemann und Barfrau. „Ich zeichne sie so einfach, weil ich dadurch besser mit ihnen experimentieren kann. Sie sind wie Schauspieler, die in verschiedene Rollen schlüpfen“, sagt der Zeichner. Drumherum kreiert er ausdrucksstarke Bilder, die im Zusammenspiel mit einer skurrilen Geschichte so komplex und detailreich sind, dass sie sich über Jahre hinweg lesen und anschauen lassen.
Möglicherweise hat Maja Lunde Bücher wie diese im Sinn, wenn sie sagt: „Auch als Erwachsener kann man mit Gewinn Kinderbücher lesen.“
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