Die Entfesselung der Gier
Der kalifornische Autor zeigt in seinem Roman „Zeit des Zorns“ Mexikos Drogenkartelle als Produkt des schrankenlosen Kapitalismus
Die mexikanische Drogenmafia funktioniert wie jedes andere Wirtschaftsunternehmen auch: neue Märkte erschließen, Konkurrenten ausschalten und dann der Kundschaft den Preis diktieren. Einziger Unterschied: Das mit dem Ausschalten der Konkurrenz nehmen die Mafiosi wörtlich. Und sie beauftragen keine Werbeagentur, um ihrer Profitmaschine für die Augen der Öffentlichkeit das Bild eines ökologisch und ethisch korrekten Kümmerer-Unternehmens aufkleben zu lassen. Stattdessen veröffentlichen sie Videos, in denen entführten Männern mit einer Kettensäge die Köpfe abgeschnitten werden.
Empfänger so eines Angebots zur geschäftlichen Zusammenarbeit sind Ben und Chon, zwei südkalifornische Ich-AGs, die sich auf die Erzeugung und den Vertrieb des besten Dope in der Bay-Area spezialisiert haben. Dieses lukrative Geschäft würde das mexikanische Baja-Kartell gerne selbst übernehmen. Und Ben und Chon sollen, quasi als Franchisenehmer, weitermachen, aber den Großteil des Profits weiterreichen. Damit ist die Ausgangslage für Don Winslows jüngsten Roman „Zeit des Zorns“ hinreichend beschrieben – und die blutige Eskalation des Konflikts vorgezeichnet, denn Ben und Chon wollen natürlich nicht.
Winslows Erzählstil als postmodern zu bezeichnen, trifft es ganz gut. Aber es sagt nichts über die Qualität dieses Romans, der am Leser förmlich vorbeirauscht. Winslows Sätze bestehen oft aus nicht mehr als ein oder zwei Wörtern, sind an den besten Stellen Assoziationsketten ohne feste Struktur. Dieses bildhafte Erzählen treibt Winslow noch auf die Spitze, indem er entscheidende Szenen ganz im Stile eines Drehbuchs montiert. Das funktioniert gut, weil er sich darauf verlassen kann, dass die Bildwelt der amerikanischen Hispanics-Kultur zwischen Machismo und Telenovela längst in das Referenzsystem der globalen Populärkultur eingespeist ist.
Ebenfalls dort, im Mainstream, ist die Dekonstruktion des Sehnsuchtsortes Kalifornien angekommen. Winslow greift das auf, beschreibt eine atomisierte, endgültig individualisierte Gesellschaft, deren einzig verbliebenes Wertesystem das des freien Marktes ist. Die organisierte Kriminalität, das dunkle Spiegelbild dieser Gesellschaft, funktioniert entsprechend auch nicht nach den Regeln von Familienbanden oder anderen übergeordneten Wertesystemen. Der Treibstoff allen Tuns, auf der Schatten- wie auf der Lichtseite, ist die Gier, die maximale Befriedigung individueller materieller Bedürfnisse. Gesetze sind nur mehr oder weniger lästige Begrenzungen des freien Marktes, auf dem die Starken sich unweigerlich durchsetzen werden.
Ben und Chon sind dabei keine Ausnahmen. Die strahlenden Helden haben ausgedient. Immerhin, die beiden und Ophelia, ihre gemeinsame Geliebte, halten zusammen, ohne Bedingungen und unverbrüchlich. Mehr Identifikationsfläche gesteht Winslow dem Leser nicht zu. Das muss man aushalten können oder wollen. Genauso wie seine ungefilterte Ausdrucksweise. Wenn nicht, sollte man von Winslow besser die Finger lassen. Wenn ja, kann man sich auf beunruhigende Lektüre freuen.
"Don Winslow: Zeit des Zorns. Suhrkamp Verlag, 338 Seiten, 14,95 Euro
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