Hinein in den Großstadt-Dschungel
Während vor 100 Jahren Berlin vielen als Zumutung erschien, war die Metropole für Brecht vor allem eines: der genuine Raum für die eigene Karriere.
Irgendwann in der Zukunft werden wir uns fragen, wie der Mensch je in Dörfern und auf dem Land hat leben können. Prognosen gehen davon aus, dass im Jahr 2050 rund zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben wird – in Staaten mit voll entwickelter Ökonomie wird diese Quote noch höher sein und bei über 85 Prozent liegen. Städte haben sich im Lauf der industriellen Revolution zu der Siedlungsform entwickelt. In einem Land wie Deutschland ist das heute selbstverständlich.
Gut 100 Jahre früher allerdings war das anders. Um 1900 war der Bevölkerungszug vom Land in die Städte gerade voll im Gange, wuchsen deutsche Städte in einem Tempo, das heute für Städte in Asien und Afrika gilt. Essen zum Beispiel: Um 1875 lebten dort 50000 Menschen, 1925 waren es mit 470000 Einwohner fast zehnmal mehr. Eine Explosion, die natürlich nicht spurlos an der Gesellschaft vorüberging und in den Debatten und Diskussionen der Zeit – und natürlich auch in den Künsten – ihren entsprechenden Niederschlag fand.
Die Großstadt als die letzte Stufe der Befreiung des Individuums
Diese historische Entwicklung rollte der Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel im Rahmen seines Vortrags beim diesjährigen Brechtfestival in Augsburg auf. Demnach gab es damals zwei große geistige Strömungen: Diejenige, die in diesem Stadtwachstum etwas Positives sah, darunter etwa der deutsche Philosoph Georg Simmel, der in der Großstadt die letzte Stufe der Befreiung des Individuums erkannte, weil dort die Geldwirtschaft dominiere und damit eine formale Gerechtigkeit vorherrsche, die sich oft mit rücksichtsloser Härte paare.
Demgegenüber stand eine starke Gegenströmung, die in der Großstadt, vor allem in Berlin, der steinernen Stadt schlechthin, etwas Verhängnisvolles und Katastrophales sah. Lyrisch schlug sich das zum Beispiel prominent bei Georg Heym nieder. Für ihn herrscht dort nämlich Baal, der „Gott der Stadt“, der mit seiner Fleischerfaust die Menschen konsumiert – die Stadt als Unort.
Berlin ist für Brecht der perfekte Raum
Zwischen beiden Positionen verortet Kiesel den jungen Brecht, der forderte, die Großstadt künstlerisch als Dschungel zu betrachten. Kritisch fiel Brechts Blick auf die Großstadtgesellschaften zum Beispiel im „Lesebuch für Städtebewohner“ aus oder in der „Dreigroschenoper“, wie der Augsburger Brechtforscher Jürgen Hillesheim in seinem Vortrag zum diesjährigen Brechtfestival ausführte: „Die Gesellschaft, die Brecht karikiert, parodiert, satirisch überzeichnet, ist keine andere als diejenige, in der er selbst Eingang finden wollte“. Die deutsche Metropole Berlin ist für Brecht der perfekte Raum, um es als Künstler zu Geltung, Ruhm und Einfluss zu bringen.
Die Hauptfähigkeit dazu war die Kunst des Lavierens, über die Brecht sich in den Tagebüchern der frühen 1920er Jahre ausließ, wie Hillesheim weiter ausführte. Der Augsburger Brechtforscher sieht in dem angehenden Weltschriftsteller keinen Autor mit strammer Gesinnung – wie auch, wenn Brecht zum Beispiel 1920 schreibt: „Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann mich nicht entschließen, sie auswendig zu lernen.“
Was das konsequent weitergedacht für das Werk Brechts bedeutet, ist in der Ausstellung zu sehen, die gerade in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg zu sehen ist (bis 26. April), und vor allem auch im begleitenden Katalog nachzulesen (Wißner Verlag, 152 Seiten, 19,80 Euro). Unter dem Titel „ …vollends ganz zum Bolschewisten geworden …?“ wird dort Brechts Verhältnis zur Revolution 1918/19 in Bayern untersucht.
Und Hillesheim führt aus, wie eindeutig Brechts künstlerische Antwort darauf ist, etwa in seinem Drama „Trommeln in der Nacht“, wo die Hauptfigur, der Kriegsheimkehrer Kragler, sich von der Revolution abwendet und das Bett seiner Freundin wählt. Brechts wohl umstrittenstes Werk „Die Maßnahme“ ist vor diesem Hintergrund nicht das Hohelied zur Rechtfertigung kommunistischer Gewalt, sondern die Entlarvung ideologischer Gewalt. Brechts Annäherung an den Kommunismus deutet Hillesheim ebenfalls mit der Figur des Lavierens: „Dem Kommunismus schmiegte er sich immer enger an, schon Jahre vor der Entstehung der ,Maßnahme’, stets das eigene Vorankommen als Künstler, die eigene Karriere im Blick behaltend.“ Der Brechtforscher erzählt also keine Heldengeschichte des Weltschriftstellers mehr, nimmt Brecht auch nicht für eine ideologisch gefärbte Debatte in Anspruch, sondern zeichnet ihn als Strategen, der Positionen aus karrieretechnischen Gründen einnahm.
So setzt sich Brechts Schaffen heute künstlerischer fort
Dieser Blick auf Brecht spiegelt sich auch im Brecht-Festivalprogramm wieder, das zum dritten und letzten Mal von dem Berliner Theatermacher, Regisseur und Schauspieler Patrick Wengenroth künstlerisch geleitet wurde und das in diesem Jahr unter dem Thema „Für Städtebewohner*Innen“ stand. Wengenroth lehnte sein Programm stark an Brechts Intentionen an und zeigte, wo und wie sich Brechts Schaffen heute künstlerisch fortsetzt. Da sind es weniger die Inhalte seiner Werke, die überdauern, sondern die Mittel seines Theaters.
Wengenroth lud also keine genuinen Brecht-Gastspiele nach Augsburg ein, sondern Produktionen, in denen sich etwas von Brechts Arbeitsweise wiederfand. Etwa das Gastspiel „Auf der Straße“ des Berliner Ensembles, das die Armut in Berlin zum Thema hat. Die klassischen Regeln des Theaters wurden an diesem Abend eingerissen: Zu sehen waren zwei Schauspieler, die in verschiedene Rollen schlüpften und von der Obdachlosigkeit erzählten. Auf der Bühne waren aber auch drei Menschen, die tatsächlich von Armut betroffen waren und von sich und ihrem Leben sprachen. Ein Hybrid zwischen Schauspiel und Performance, das unter die Haut ging.
Ein gelungenes und in sich stimmiges Festival
Raffiniert auch die Versuchsanordnung, die das Performance-Kollektiv She She Pop wählte. Zu „Oratorium“ ließ sich das Berliner Kollektiv von Brechts Lehrstücken inspirieren. Das bedeutete, dass auch dem Publikum eine gewichtige Rolle zufiel, indem es nämlich mitsprechen musste. Es hatte in verschiedenen Chören seinen von She She Pop geschriebenen und an die Wand projizierten Text zu sprechen: Texte über die Situation, plötzlich eine eigene Stimme zu haben, aber auch über das Erben und Nicht-Erben, über gute und schlechte Alterabsicherung. Für die Zuschauer barg das buchstäblich Überraschungen, etwa wenn diejenigen, die schon geerbt haben, auf die Bühne gebeten und vom Rest des Publikums aufgefordert wurden, zu sagen, was und wie viel das sei.
Mit einem gelungenen und in sich stimmigen Festival verabschiedet sich nun Wengenroth nach drei Jahren als Festivalleiter. Er hat dem Brechtfestival eine eigene Note gegeben: weniger Prosecco-Laune, weniger gediegen, weniger Prominenz auf der Bühne; dafür viel mehr Experiment und sehr viel freie deutschsprachige Theaterszene, die zeigte, wie dort mit bescheidenen Mitteln erstklassig gearbeitet wird. Wengenroths Nachfolger stehen schon bereit. 2020 wird erstmals ein Duo das Programm gestalten, die Theaterregisseure Tom Kühnel und Jürgen Kuttner. So viel lässt sich nach ersten Gesprächen mit ihnen sagen: Sie werden das Festival nicht neu erfinden, sondern dort weitermachen, wo Wengenroth aufgehört hat.
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