Im Boot mit dem Erzähler
Ein kleines Mädchen inspirierte Charles Dodgson vor 150 Jahren zu „Alice im Wunderland“. Veröffentlicht unter dem Pseudonym Lewis Carroll wurde das Buch ein Welterfolg
Wer wüsste es nicht – wenn Kinder um etwas bitten, kann man schwer widerstehen. So löste die kleine Alice Pleasance Liddell eine literarische Erfolgsgeschichte aus, die vor genau 150 Jahren ihren Ausgang in einem kleinen Boot auf der Themse bei Oxford nahm.
Charles Lutwidge Dodgson, 30 Jahre alt und Tutor für Mathematik am Christchurch College in Oxford, konnte dem Mädchen mit dem braunen Pagenkopf nicht widerstehen, als sie ihn bei einer Bootsfahrt mit ihren beiden Schwestern Edith und Lorina aufforderte: „Erzähl uns was!“ Der junge Mann, der zuvor schon kürzere Texte und Gedichte verfasst, aber nie veröffentlicht hatte, ersann die aberwitzige Geschichte von „Alice im Wunderland“. Darin folgt ein kleines Mädchen namens Alice träumend einem weißen Kaninchen durch ein Erdloch in eine phantastische Welt, in der das Kind abwechselnd wächst und wieder schrumpft und wundersamen Wesen begegnet wie einer Grinsekatze, einer Raupe, einem verrückten Hutmacher, dem Märzhasen und einer herrischen Herzkönigin.
"Schreib es auf!"
Alice Liddell, damals zehn Jahre alt, war von der Geschichte so begeistert, dass sie Dodgson am Ende der Bootsfahrt beschwor: „Schreib es auf!“ Noch eine Bitte, der er sich nicht entziehen konnte. Im November 1864 schenkte ihr Dodgson das kleine Büchlein mit der Widmung: „A Christmas Gift to a Dear Child in Memory of a Summer Day“. Dodgson hatte das Manuskript fein säuberlich mit der Hand geschrieben und dabei immer wieder Platz gelassen für Zeichnungen, die er erst nach dem Schreiben einfügte.
Dass das Buch dann auch anderen Lesern zugänglich wurde, soll wiederum einem kleinen Jungen zu verdanken sein: Greville MacDonalds. Da sich Dodgson unschlüssig war, ob er die Geschichte veröffentlichen sollte, gab er sie seinem Freund George MacDonald und der las sie erst mal seinen Kindern vor. Deren Begeisterung, und nicht zuletzt der Wunsch des kleinen Greville, es möge 60000 Bände davon geben, sollen Dodgson überzeugt haben, das Buch einem Verlag anzubieten. Am 4. Juli 1865 erschien es. Als Verfasser stand auf dem Buchdeckel Lewis Carroll, ein Pseudonym, das Dodgson aus diversen Namen seiner Familie zusammengesetzt hatte. Allerdings enthielt die Ausgabe nicht mehr die Zeichnungen des Autors, sondern Illustrationen des bekannten Zeichners John Tenniel
Inspirationsfigur für viele weitere Künstler
Der Erfolg kam umgehend. Auch Königin Victoria gehörte zu den begeisterten Lesern. Schon bald gab es Übersetzungen ins Deutsche, Französische, Italienische. Carrolls Buch war eines der ersten Kinderbücher, die weltweit zum Bestseller und Klassiker aufstiegen. Die kleine Alice wurde zu einer Ikone, sie inspirierte zu Theaterstücken, Filmen und Popsongs. Welch großen Einfluss sie auf Künstler hatte, zeigt bis 30. September eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle mit rund 200 Werken. Vor allem Surrealisten wie Salvador Dalí, René Magritte und Max Ernst griffen das Motiv auf, fühlten sich angesprochen von dieser Welt im Untergrund, die ihren eigenen Regeln folgt.
Ein Kosmos voller Absurditäten erwartet die Leser, wenn sie mit Alice kopfüber durch den Kaninchenbau ins Wunderland stürzen. Die Grenzen zwischen Sinn und Unsinn, Tier und Mensch, Wirklichkeit und Phantasie verwischen, Zeit und Größe werden zu relativen Begriffen und sind einem steten Wandel unterlegen. Was Kinder als phantasiereiche Geschichte mit wunderbarem Sprachwitz und zahlreichen Wortspielereien lesen, war Erwachsenen schon immer ein Anlass zu tieferer Bedeutungssuche.
Als Buch über das Erwachsenwerden ist „Alice im Wunderland“ interpretiert worden, auch als Geschichte der Selbstbehauptung eines jungen Menschen gegenüber starker Reglementierung. Immer wieder kam auch der Verdacht auf, dass die Geschichte dem Gehirn eines Mannes mit pädophilen Neigungen entsprungen sei.
Mathematiker, Theologe und Fotograf
Dodgson alias Carroll war nicht nur ein hochbegabter Mathematiker, der nebenbei Theologie studiert hatte, sondern auch ein leidenschaftlicher Fotograf. Seine bevorzugten Motive waren Mädchen im Alter von zehn bis 15 Jahren. Auch Alice Liddell und ihre Schwestern gehörten zu seinen Modellen. Immer wieder wurde gemutmaßt, dass das tiefe Verhältnis, das Dodgson mit den drei Mädchen verband, ausschlaggebend gewesen sein könnte für den plötzlichen Abbruch der Verbindungen mit der Familie im Jahr 1863.
Die historische Alice starb 1934 im Alter von 82 Jahren; zwei Jahre zuvor war ihr von der Columbia University in New York die Ehrendoktorwürde für ihre Verdienste um die Literatur verliehen worden. Das Büchlein, das sie einstmals als Weihnachtsgeschenk erhalten hatte, überlebte den Verfasser und seine Heldin: In millionenfacher Auflage in Bücherregalen auf der ganzen Welt, im Original im Manuskripte-Raum des British Museum in London.
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