Wenn der größte Informationsspeicher in der Geschichte der Menschheit mit nur einem Klick, einem Wisch jederzeit frei zugänglich ist: Wer braucht da noch aufwendige, sperrige, teure Bücher? Die Marktbilanzen zur heute beginnenden Frankfurter Buchmesse sagen: immer weniger Menschen. Dabei müsste es gerade bei all den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unwägbarkeiten im Zeitalter der Digitalisierung heißen: Der Mensch braucht sie immer mehr!
Literatur macht uns zu Zeitgenossen der Geschichte
Denn die Bücher lehren mehr, als es Google je könnte, und sie lehren Wesentliches, das im Internet und dem von ihm geprägten Zeitalter allzu leicht untergeht. Das beste Beispiel dafür sind die derzeit besonders im Fokus stehenden Romane zu geschichtlichen Themen.
Von den sechs für den Deutschen Buchpreis nominierten Werken führen fünf tief in die Vergangenheit – und immer geht es ins Dunkle: von christlichem Völkermord in China bei Stephan Thome bis zum Tschetschenienkrieg bei Nino Haratischwili, von der argentinischen Militärdiktatur bei Maria Cecilia Barbetta bis in den sowjetischen Totalitarismus bei Maxim Biller. Auf den Bestsellerlisten stehen derweil die Deutsche Carmen Korn und der Schwede Jonas Jonasson oben, sie mit ihrer Jahrhundert-Trilogie, er mit seinem Hundertjährigen, beides Streifzüge durch die Geschichte. Und der Franzose Olivier Guez ist mit seinem Buch über den Günzburger KZ-Arzt Mengele so gefragt, dass er damit gleich auf weltweiter Lesetournee ist.
All diese Romane verarbeiten bekannte Historie – und das Wissen, die Informationen, die Daten, alles ist auch kostenlos in vielen Quellen online abrufbar. Was die Literatur aber leistet, kann nur sie. Wo auch Filme nur vor- und aufführen, machen Bücher uns über alle Distanzen hinweg zu Zeitgenossen der Geschichte. In der konzentrierten Beschränkung aufs kundig und ergreifend Geschriebene und in der Belebung des Beschriebenen durch die eigene Vorstellung kann der Leser miterleben und mitfühlen. Näher und tiefer als in jedem Live-Stream. Und das über Jahrhunderte hinweg. Ein Wunder eigentlich.
Wenn die Zeitzeugen sterben, müssen wir zu neuen werden
Aber eben auch ein heute dringend nötiges. Denn einerseits werden die tatsächlichen Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs ja immer weniger – ihre Erfahrungen müssen aber so lebendig wie möglich bleiben, damit die Lehren gegenwärtig sind. Und andererseits droht angesichts der Wucht, mit der die technischen Neuerungen unserer Gegenwart vom Alltag bis in die Weltpolitik umkrempeln, gleich zweierlei: Die Bedeutung der Geschichte rückt durch den Epochenbruch der digitalen Welt in eine ganz neue Ferne (und ist Kids mitunter nur noch verschlüsselt in „Fantasy“ zu vermitteln); und die Deutung der Geschichte wird willkürlicher und damit wieder verfügbar zur politischen Instrumentalisierung. America: Great Again? Deutschland: eine tausendjährige Erfolgsgeschichte, die Nazizeit bloß ein Vogelschiss? Gegen Relativierung und Revisionismus hilft kein Googeln.
Es ist wie im Geschichtsunterricht: Daten, Bilder, Informationen reichen nicht – es braucht eine wahrhaftige Erzählung. Und in der Literatur machen es sich die besten Erzähler unserer Zeit zur Aufgabe, Gewesenes auszuleuchten, das uns auf dem Weg in eine unsichere Zukunft einfach gegenwärtig bleiben muss – als Mahnung oder als Reflexionsraum. Im Internet begegnen wir nur dem Wirbeln des Zeitgeists, vorwärtsstürzend in unendlichen Momentaufnahmen. In der Literatur erfahren wir uns als Teil der Menschheit und ihrer Geschichte. Nur daraus erwächst Verantwortung für mehr als unser eigenes Glück und Offenheit für mehr als unsere eigene Perspektive. Darum braucht der Mensch Bücher.