Lebensbeichten aus dem Fußpflegestudio in Marzahn
Die Autorin Katja Oskamp hat umgesattelt. Sie jobbt als Fußpflegerin und schreibt eine Liebeserklärung an ihre neue Kundschaft.
Taxifahrer, Seemann, Rechtsanwalt, Postbote, Hotelportier – das sind so typische Berufe, die Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus eigener Erfahrung kennen und in Romanen literarisch verarbeitet haben. Ein bisschen Abenteuer, Alltagsromantik, Exotik, Nachtgestalten – als Stoff gibt das immer etwas her. Aber Fußpflege? Nägel schneiden, Hornhaut raspeln, Dreck aus Hautfalten pulen? Krumme Zehen, violette Haut und gelbe Verfärbungen als literarisches Sujet? Oh ja!
Die Berliner Autorin Katja Oskamp wechselte mit Mitte Vierzig in einer Lebens- und Schreibkrise den Beruf, ließ sich ausgerechnet zur Fußpflegerin ausbilden und hat dem literarischen Genre diese Facette hinzugefügt. Oskamp hat über die Exotik der Normalität geschrieben, im weißen Kittel ein ganz eigenes gesellschaftliches Milieu jenseits von Hipster-Berlin erkundet und die Literatur sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt.
Über die Menschen, deren Füße sie in einem Studio im Berliner Plattenbauviertel Marzahn bearbeitet hat („Es waren ungefähr dreitausendachthundert“), schrieb Oskamp ein anrührendes, bewegendes Buch, das zum Überraschungserfolg des Frühjahrs wurde. Wer eine Stunde zur Fußpflege Platz nimmt und regelmäßig wiederkommt, erzählt. Von sich, von den Mühen und Freuden des Lebens. Das Kosmetikstudio wird zu einer Mischung aus Beichtstuhl und Kneipentresen. Den Stuhl für die Kundschaft nennt die Schriftstellerin „Thron“.
Die Autorin kennt keine Berührungsängste
Katja Oskamp kennt keine Berührungsängste. Ihr fällt der Stoff vor die Füße. Mit Empathie und Unvoreingenommenheit, mit Respekt für ihr Personal – ältere Leute, die meistens längst in Rente sind und ihr Leben gelebt haben – greift sie zu und schreibt ein Panorama der Unsichtbaren. In den „Geschichten einer Fußpflegerin“ treten patente Leute auf, alltagsgehärtete Typen, die sich, meist in der DDR, durchs Leben geschlagen haben. Menschen, die Krankheiten und Schicksale mit Würde, Zähigkeit und Humor tragen. Es sind lebenskluge Figuren abseits vom akademischen Milieu. Lebenskünstler aus Hochhauswohnungen – und vor allem starke Frauen, die sich durch nichts, auch nicht durch schwache Männer, unterkriegen lassen. All die namenlosen Gestalten mit Rollatoren und alten Hunden, die schleichenden Männer mit Schiebermützen und beigen Windjacken, die hinter aufgekratzten Frauen mit bunt gefärbten Haaren herschleichen, bekommen in „Marzahn Mon Amour“ ein Gesicht, eine Biografie – individuell, mit Beulen, Schrammen, Macken, Krankheiten und Glanzlichtern. Die schreibende Fußpflegerin bleibt immer auf Augenhöhe und bewundert nicht nur an Frau Bonkat, „dass sie sich nie als Opfer schildert“.
Irgendwann entspannen sich sogar die Männer
Katja Oskamp lässt ihr Personal gerne berlinern („Lieba zehn Dackel als een Mann“), sie glättet nicht – weder schrundige Füße noch traurige Biografien. Im Fußpflegestudio, wo die Kolleginnen Tiffy und Flocke an der Seite der Autorin arbeiten, entspannen sich irgendwann sogar die Männer, denen ihre Füße grundsätzlich peinlich sind. Herr Pietsch ist so einer. Früher Parteifunktionär der SED, jetzt Rentner, führt er penibel Buch über seine Sexualkontakte – und wirbt beharrlich wie erfolglos um Oskamp, die Eintrag Nummer 52 wäre.
„Marzahn Mon Amour“ ist auch eine Liebeserklärung an die Plattenbausiedlung und ihre Bewohner, eine Erzählung über das nur langsame Verblassen von DDR-Biografien. Das ist in einigen Fällen wörtlich zu nehmen – von den Alten werden einige dement. Über Frau Guse schreibt Oskamp: „Sie entfernt sich nur langsam und im Rückwärtsgang von der Welt, in der sie sich auskannte: Kinder, Küche, Kaufhalle.“
Katja Oskamp: Marzahn Mon Amour. Hanser, 144 Seiten, 16 Euro
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