Alles anders, als man denkt
Der ganze „Faust“ in achteinhalb Stunden: Der Tragödie beider Teile spannt Nicolas Stemann zu einem kecken, vital-sinnlichen Theatersuperlativ zusammen
Salzburg Goethe selbst spöttelte im Gespräch mit Eckermann über die ewige Grübelei des Publikums und warb für Entkrampfung im Umgang mit seinem „Faust“: „Ei! So habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch ergötzen zu lassen.“
Ein Fall für den 42-jährigen Hamburger Regisseur Nicolas Stemann, der vor allem als Jelinek-Interpret bekannt geworden ist. Seine intelligente, spielerisch-kraftvolle und im zweiten Teil schrille, ins Irrwitzige abdriftende Inszenierung von „Faust I“ und „II“ für die Salzburger Festspiele mischt den schweren Goethe auf. Ein mäandernder Assoziations- und Bilderreigen, der das Bedeutsame mit Banalem kreuzt, allerlei Pop- und Rocksongs und den Chart eines Hedgefonds einbindet und Goethe ohne Ehrfurcht auch mal links liegen lässt.
Wir sehen den Klassiker befreit aus dem engen Gewand des Reclamheftes. Das zerreißt Sebastian Rudolph (Faust) schon gleich am Anfang und hält sein Feuerzeug an die Seiten. Die Äxte und Benzinkanister, die er auf die Bühne schleppt, sind wie Vorzeichen der „theatralen Energie“ (Stemann), die sich bis halb zwei Uhr nachts zum Ergötzen des Publikums entladen wird.
Goethe selbst darf auch mitspielen
Knapp achteinhalb Stunden (inklusiver dreier Pausen) dauert der „Faust“-Marathon auf der Perner-Insel in Hallein. Das Experiment im Theaterlabor ist eine Herausforderung für das Publikum und die Akteure gleichermaßen. Nur sechs Schauspieler übernehmen die 205 Rollen der Tragödie. Dem starken Ensemble des Hamburger Thalia-Theaters glückt mit Nicolas Stemann abseits der erwartbaren Pfade der Werktreue eine aufregende Reise in das gereimte Textmonument. In einem vor allem im zweiten Teil gelegentlich überbordenden Mix aus Schauspiel, Tanz, Puppenspiel, Videoprojektionen, Musik und Gesang wird aus dem sperrigen Faust-Stoff ein sinnlicher, vitaler, rätselhafter, manchmal alberner, aber nie langweiliger Theatersuperlativ. Goethe darf sich bei dieser Selbstentfesselung auch selbst zusehen – Stemann lässt ihn im „Faust II“ mitspielen.
Doch vor der wilden Revue kommt „Faust I“, der seines Lebens überdrüssige, erlebnishungrige Gelehrte. Sebastian Rudolph steht die erste Stunde allein auf der weitgehend leeren Bühne. Er ist ein junger Faust – aber nicht nur. Sein Monolog schließt auch die anderen Rollen mit ein. Ohne Pathos und Patina, mit Tempowechsel, Stimmenvielfalt und wirksamen Brechungen im Vortrag stimmt Rudolph auf den Geist dieser „Faust“-Inszenierung ein: Es kommt schon alles, aber anders, als man denkt. „Hier bin ich Mensch...“ – und dann eben kein „hier darf ich’s sein“, sondern „Gesundheit!“
Philipp Hochmair und Patrycia Ziolkowska, die auch mehr als nur Mephisto und Gretchen sind, stoßen hinzu. In der Neu- und Umverteilung der Verse und der Überschneidung und Durchlässigkeit ihrer Rollen lösen sie den Klassiker auf und ermöglichen einen neuen Blick. Faust und Mephisto verschmelzen zu einer Figur, Gretchen ist auf Augenhöhe. Großartig, wie Ziolkowska als Vamp in High Heels gleichzeitig den werbenden Faust und das umworbene Gretchen spielt, wie Rudolph und Hochmair gemeinsam die Gretchenfrage („Nun sag, wie hältst du’s mit der Religion?“) beantworten. Stemann hat erklärt, Mephisto verkörpere für ihn eine „Entscheidung im Leben des Faust, der sich plötzlich erlaubt, ein Arschloch zu sein und sich nicht mehr um Moral und das Wohlergehen der anderen zu kümmern.“
In der Arbeit des Regisseurs, den vor allem der schwer fassbare und eigentlich unspielbare „Faust II“ (Heinrich Heine sprach von einer „allegorischen und labyrinthischen Wildnis“) gereizt hat, geht es immer auch um die Bedingungen des Theatermachens. Um den Blick auf das, was man da tut auf der Bühne. So veräppelt er in Videoeinspielungen dozierender Goethe-Interpreten den schulmeisterlich-ausufernden Ballast, den es abzuschütteln gilt. Der Regisseur tritt immer wieder auch selbst in Erscheinung – als Sänger in Auerbachs Keller (eine Disco) oder wenn er, als sei’s eine Probe (denn „fertig“ sind Stemanns Inszenierungen nie, wie er sagt), auf der Bühne hin- und herläuft.
Für jeweils 100 Verse gibt’s ’nen weißen Strich
Und in der Tragödie zweitem Teil werden Strichlisten geführt: Für je 100 rezitierte Verse (12111 sind es in beiden Teilen insgesamt!) gibt es einen hingemalten weißen Balken. Als Puppe tritt die Theaterlegende Max Reinhardt auf. In einer Persiflage aufs Regietheater schwafelt im Wiener Schmäh ein seniler „Geheimrat“ mit falschem Bart trunken von der „Postdramatik“, und wie toll man „Klassik mit Video gemischt“ habe: „Es war a Spitzenzeit, is aber scho lang her.“
Unablässig wird auf der Bühne betont: „Faust II, ungestrichen!“ Aber natürlich kommt es anders, als man denkt... Ein Exkurs in unser Heute samt Kapitalismuskritik endet mit einem Seitenhieb auf die Salzburger Festspielleitung. Die hatte bekanntlich den Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler als Eröffnungsredner wieder ausgeladen. Jetzt spielt Ziegler eben im „Faust“ mit, wird zitiert (Szenenapplaus), bevor es heißt: „Wir kommen nun zur griechischen Mythologie.“
Faust und Mephisto treten im Verlauf des Abends immer stärker in den Hintergrund, sie verflüchtigen sich in der Inszenierung. So wie die am Ende von Engeln eingefangene Seele des Faust – weiße Plastiktüten, die über Gebläsen aufsteigen. Wieder so ein überzeugendes Bild, das profan und poetisch zugleich ist. Halb zwei nachts: starker Applaus, wenige Buhs.
Nochmals an diesem Samstag, 30. Juni, um 17 Uhr, auf der Perner-Insel in Hallein. Die weiteren sechs Vorstellungen sind ausverkauft.
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