Wenn ein Jubiläum das andere jagt
Leonardo, Fontane, Rembrandt und viele andere mehr: 2019 ist randvoll mit großen Jahrestagen. Was aber bringen all die Ausstellungen und Neuveröffentlichungen?
Wo soll man bloß zuerst hingucken, worin sich zuerst vertiefen? Sich mit Leonardo beschäftigen, indem man eine der diversen neuen Abhandlungen über ihn studiert, oder doch lieber in Leben und Werk von Rembrandt eintauchen? Oder sich gleich dem Bauhaus und seinen vielen Köpfen widmen? Oder nicht doch lieber damit beginnen, sich in das umfängliche Romanwerk Theodor Fontanes einzuarbeiten?
Das Jahr 2019 spart nicht mit Ansinnen dieser Art, dicht gedrängt sind die runden Geburts- oder Todesdaten großer Namen: 100 Jahre Bauhaus, 200. Geburtstag Fontanes, vor 350 Jahren starb Rembrandt, vor 500 Jahren Leonardo da Vinci. Seit langem schon nimmt der Kulturbetrieb solche Jubiläen zum Anlass, um mit einer Vielzahl von Veranstaltungen und Veröffentlichung daran anzudocken. Ob Ausstellungen oder Konzerte, Bücher oder Feuilleton-Beiträge, TV-Dokus oder Radio-Diskussionen – gefühlt kommt den Jahrestagen eine anschwellende Bedeutung zu. Zumindest in einem Jahr wie diesem, in dem die Gedenkanlässe in engem Takt aufeinanderfolgen. Man muss die Feste eben feiern, wie sie fallen, scheint die Devise zu lauten.
Aber braucht es diese auf breiter Front daherrollenden Erinnerungswellen? Oberflächlich betrachtet scheint es so zu sein, als hätten die, die da am lautesten aufs Schild gehoben werden, es eigentlich am wenigsten nötig. Dass Leonardo da Vinci eine Jahrtausendgestalt ist, dazu bedarf es eigentlich keiner neuen Belege.
Wer kennt mehr von Fontane außer „Effi Briest“?
Andererseits: Warum dieser Leonardo denn nun tatsächlich so außergewöhnlich war, das kundig zu begründen, dürfte für diejenigen, die nicht von Haus aus Kenner des Renaissance-Genies sind, nicht so ohne weiteres auf der Hand liegen. Oder Fontane: Hand aufs Herz, wer hat außer der Schullektüre „Effi Briest“ wirklich noch weiteres von diesem Autor gelesen? So betrachtet, machen all die anstehenden Ausstellungen zu Leonardo, dem Bauhaus oder Rembrandt ebenso Sinn wie die in den Buchhandlungsregalen zunehmenden Fontane-Titel, in denen man sich lesend versichern kann, dass dieser Schriftsteller mehr vermochte als bloß ein One-Hit-Wonder abzuliefern.
Natürlich steht hinter dem Schielen der Museen, Verlage und auch der Medien ein handfestes Interesse, hofft man doch, ein Stück der geballten Aufmerksamkeit auch selbst abzubekommen. Wenn jetzt überall vom Bauhaus die Rede ist, dann können die einschlägigen Museen in Weimar und Dessau davon ausgehen, dass ihnen verstärkt Aufmerksamkeit zuteilwird, nach dem Motto: Das muss man jetzt einfach gesehen haben!
Gewiss, wenn nur recht viele Player ins selbe Jubiläums-Horn stoßen, verfehlt der geballte Ruf letztlich nicht seine Publikumswirkung. Und doch ist damit noch nicht hinreichend erklärt, weshalb Ausstellungshäuser, Verlage oder sonstige Institutionen, wenn sie nach Jahreszahlen schielen, so oft Besucher- oder Verkaufserfolge einfahren. Die Nachfrage nach Veranstaltungen, die den Kulturgrößen der Vergangenheit gewidmet sind – Vergleichbares gilt auch für historische Ereignisse wie zuletzt den Dreißigjährigen Krieg oder den Ersten Weltkrieg –, diese unübersehbar vorhandene Nachfrage legt den Schluss nahe, dass hier ein tieferes Impuls schlummert.
Kulturelle Bildung ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr, sehr wohl aber ein Bedürfnis, das zeigen schon die alljährlich dreistelligen Millionenzahlen deutscher Ausstellungsbesuche. Zugleich ist dort, wo Interesse für Kunst oder Literatur besteht, die Verbindlichkeit eines Kanons abhandengekommen, jener von allen geteilte Kernbestand dessen, was als bekannt vorausgesetzt werden darf. Das, was heutzutage gesehen, gelesen, gehört wird, ist beliebig geworden – um den Preis der Vereinzelung. In diese Lücke stoßen die Jubiläen, indem sie suggerieren, hier, bei Leonardo, Fontane und all den anderen, liege jene Bedeutsamkeit vor, die einen breiten Strom potenziell Interessierter auf einen gemeinsamen Nenner verpflichtet. Ein Orientierungsanker in einer Welt, in der auch das Feld der Künste längst unübersichtlich geworden ist.
Jubiläen sind Rückversicherungen. Sie rufen in Erinnerung, dass das Heute nicht aus dem Nichts herrührt, sie liefern zumindest ansatzweise Erklärungen, wie das wurde, was jetzt ist. Und doch ist das nur die eine Hälfte. Denn Sinn macht so eine Rückschau bloß, wenn Leben und Werk der vor 100, 200 oder 500 Jahren gewesenen Meister nicht nur museal und staunenswert an uns herangetragen, sondern wenn sie fruchtbar gemacht werden für die heutige Zeit – und zwar durchaus in kritischer Konfrontation.
Die Frage ist, wie nachhaltig so ein Jubiläum wirkt
Die an den Jubiläen sich entzündende Betriebsamkeit wirft gewiss auch Fragen auf. Gibt es eine Grenze, wo die Aufmerksamkeit für eine historische Gestalt ins Gegenteil umschlägt, in eine Abwendung wegen Überfrachtung? Als unglückliches Beispiel kann die Lutherdekade gelten, die zehn Jahre lang Leben und Leistung des Reformators derart ausführlich thematisierte, dass am Ende, im eigentlichen Lutherjahr 2017, das allgemeine Interesse schon allzu gesättigt war. Fraglich ist auch, ob die Vertiefungen, die in den Jubeljahren gelingen mögen, von Dauer sein werden. Das betrifft weniger die Olympier vom Schlage eines Leonardo oder Rembrandt, wohl aber Namen wie Clara Schumann oder Jacques Offenbach, beide ebenfalls Jubilare des Jahres 2019. Ob etwa die Aufmerksamkeit, die Clara Schumann zu ihrem 200. Geburtstag zuteil wird, tatsächlich über das Jahr hinaus anhalten, gar zu einer Neubewertung dieser vortrefflichen Musikerin führen wird, dürfte fraglich sein – nicht anders als bei ihrem Fachkollegen, dem aus Augsburg stammenden Leopold Mozart (300. Geburtstag).
Der Nachhaltigkeit der Jubiläen droht nicht zuletzt Gefahr durch die Jubiläen selbst. Denn noch haben in diesem Jahr das Bauhaus, Leonardo, Fontane & Co. ihre tatsächlichen Jubiläumsdaten noch gar nicht erreicht, da zieht am Horizont schon das Jahr 2020 mit neuerlich Schwergewichtigem herauf: mit dem 500. Todesjahr von Raffael, dem 250. Geburtstag von Hölderlin und ganz besonders der 250. Wiederkehr von Beethovens Geburt. Da muss man tief einschnaufen und – hindurch. Und darf doch auch hoffen: Die weniger prall gefüllten Jahre, sie kommen irgendwann wieder.
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