Im Kopf von Wim Wenders
Stéphane Lemardelé hat für Wim Wenders' Film "Every Thing Will Be Fine“ entscheidende Szenen gezeichnet. Aus der Zusammenarbeit mit dem Regisseur ist ein herrlicher Comic über dessen Arbeit entstanden.
Der Schnee ist in Quebec so schön weiß, dass einem unwillkürlich alte Schlager durch den Kopf rauschen. In Wim Wenders' „Every Thing Will Be Fine“ aus dem Jahr 2015 gerät man sofort in diese Jetzt-raus-zum-Schlittenfahren-Stimmung, aber das ist halt auch nur der Anfang – und das Schlittenfahren leider tödlich: Zwei kleine Buben laufen dem Schriftsteller Tomas vors Auto, und nur einer überlebt. Daraus entspinnt sich eine ambivalente Geschichte. Denn einerseits verzweifelt Tomas an seinen Schuldgefühlen, beginnt zu trinken und unternimmt einen Suizidversuch. Auf der anderen Seite verarbeitet er das Unglück in einem Roman, und der ist auch noch äußerst erfolgreich.
Man könnte den Plot problemlos in eine Graphic Novel übertragen, dieses Prozedere nimmt unter den Neuerscheinungen mehr und mehr Raum ein, oft mit überschaubarem Erkenntnisgewinn. Stéphane Lemardelé wählt einen originelleren Zugang, der mit seinem Job zu tun hat. Der nach Kanada ausgewanderte Franzose war von Wenders engagiert worden, um das Storyboard zu entscheidenden Szenen von "Every Thing Will Be Fine" zu zeichnen.
Weil es so kalt in der Bude war, ging Wenders exzessiv ins Kino
Im Comic erzählt er nun das Making-of des Films, und man kommt Wenders und seiner Arbeitsweise erstaunlich nahe: Wie der Regisseur mit seinen Leuten spricht und sie in die Entscheidungen einbezieht, mit welchem Aufwand er nach den passenden Orten für seine Filme sucht, dass es ihm vor jedem Drehbeginn so richtig graust, wie ihn die Kälte Kanadas inspiriert und nebenbei Erinnerungen an die Zeit in Paris hervorruft. Abgelehnt von der dortigen Filmhochschule, erlernte Wenders bei einem Graveur die Technik der Radierung und ging außerdem exzessiv ins Kino, auch, weil es in seiner Unterkunft unerträglich kalt war.
In einer gezeichneten Geschichte über Wim Wenders dürfen genauso die Vorbilder des Filmemachers nicht fehlen. Daraus macht er zwar keinen Hehl, neben Jan Vermeer und Walker Evans zählt Edward Hopper zu seinen großen Heroen. Doch diese Inspiration wird im Band neben einer famosen Wiedergabe der „Nighthawks“ auch sehr anschaulich eingeflochten, etwa in Perspektiven und Bildschnitten.
Von "Paris, Texas" bis zu Wenders' großen Dokumentationen
Überhaupt erfährt man eine Menge übers Filmemachen, selbst scheinbar Banales wie die Finanzierung. Und schließlich kommt auch Wenders' Werk zur Sprache: von den Anfängen in den späten 60ern über die Klassiker der folgenden zwei Jahrzehnte wie etwa „Paris, Texas“ und „Der Himmel über Berlin“ bis hin zu den Dokumentationen über Pina Bausch oder Sebastião Salgados Projekt „Das Salz der Erde“.
Dass Lemardelé durch und durch Wenders-Fan ist, geht schon in Ordnung. Er beobachtet ungemein präzise, filtert das Entscheidende heraus, und man dürfte dadurch selbst "Perfect Days", Wenders' neuen Film über einen japanischen Toilettenreiniger, mit anderen Augen sehen. Wer mit Wenders so gar nicht kann, wird sich diesen Comic ohnehin kaum zulegen.
Stéphane Lemardelé: Das Storyboard von Wim Wenders. Splitter Verlag, 152 Seiten, 29,80 €.
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