Raus aus der Blase und rein ins Taxi
"791 km" ist eine Mainstream-Komödie mit Tiefgang. Auch wenn der Plot an manchen Stellen vorhersehbar ist, erfüllt sie doch ihr Ziel: hier Unterhaltung, dort ein geschärfter Blick.
Ein Sturm fegt über Deutschland hinweg. Herwarth heißt das Tiefdruckgebiet, das den Flug- und Bahnverkehr zum Stillstand bringt. Am Münchner Hauptbahnhof herrscht reges Treiben. Hektisches Telefonieren. Eine Gruppe Jugendlicher stellt sich auf eine lange Nacht im Bahnhof ein. An den Infoschaltern bilden sich lange Schlangen. Dort werden Taxigutscheine an die gestrandeten Reisenden verteilt. Eigentlich wollte Joseph (Joachim Król) nur kurz am Bahnhof haltmachen, um Proviant für die Fahrt nach Bad Bramstedt zu kaufen. Als er zurückkommt, ist sein Taxi voll besetzt und die Fahrgäste wedeln mit Gutscheinen in dreistelliger Höhe. Widerwillig lässt der Taxifahrer sich darauf ein.
Fünf Personen schließt Regisseur Tobi Baumann in seinem Film „791 km“ auf engstem Raum ein und schickt sie auf die nächtliche Reise von München nach Hamburg. Im Gepäck haben die Figuren ihre unterschiedlichen Lebenserfahrungen, politischen Meinungen, persönlichen Konflikte und individuellen Probleme. Die pensionierte Linguistik-Professorin Marianne (Iris Berben) hat sich als Alt-Achtundsechzigerin ihr Hippieherz bewahrt, läutet sogleich eine Kennenlernen-Runde ein und hält mit ihren grün-alternativen Überzeugungen nicht hinterm Berg. Die gestresste Start-up-Unternehmerin Tiana (Nilam Farooq) hat sich schon in der Schlange am Infoschalter von ihrem Freund Philipp (Ben Münchow) getrennt. Der überentspannte Physiotherapeut in Teilzeitbeschäftigung zeigt zu wenig Initiative bei der Krisenbewältigung, während Tiana um ihre Karriere bangt. Am anderen Morgen hat sie in Hamburg eine wichtige Präsentation mit einem Investor, die über die Zukunft ihres Unternehmens entscheidet.
In "791 km" prasseln unterschiedliche Vorstellungen aufeinander
Zwischen den beiden auf der Rückbank sitzt Susi (Lena Urzendowsky), die sich ohne Gutschein als blinde Passagierin ins Taxi geschmuggelt hat und nach 45 Reiseminuten mit „Ich muss mal“ ihren ersten Satz sagt. Schon bald erkennen die Mitreisenden an ihrem kindlichen Sprachgebrauch, dass die junge Frau geistig beeinträchtigt ist. Schließlich ist hinter dem Steuer noch Joseph, der früher einmal einen Spielzeugladen am Stachus hatte und sich seit dem Konkurs als Taxifahrer durchschlägt.
Es dauert keine fünf Minuten, schon prasseln die unterschiedlichen Vorstellungen aufeinander: Reizthemen wie Spritpreise, Klimawandel oder Cancel-Culture tropfen in das Taxi wie der Regen auf die Straße. Joseph provoziert durch politisch unkorrekte Äußerungen, die bei genauem Hinhören auch eine Tiefe aufweisen. Exakt darum geht es in dem Film: um das genaue Hinhören, Wahrnehmen und Verstehen anderer Menschen, ohne deren Positionen teilen zu müssen. Auf den ersten Blick füllen der erfahrene Komödien-Regisseur Baumann („Faking Hitler“) und Drehbuchautor Gernot Gricksch („Das Leben ist nichts für Feiglinge“) den Innenraum des Autos mit einem Konsortium aus Stereotypen, um diese nacheinander mit atypischen Facetten anzureichern und zu komplexeren Charakteren auszubauen.
"791 km" versteht sich als Statement gegen die gesellschaftliche Polarisierung
Das ist löblich, denn der Film versteht sich als Statement gegen die gesellschaftliche Polarisierung, in der Positionen und Lebensläufe nur noch nebeneinander stehen, ohne miteinander zu kommunizieren. „Raus aus der Blase. Rein ins Taxi“ könnte das Motto des Filmes lauten, der seine Charaktere sukzessive zu einer Ersatzfamilie zusammenschweißt. Dabei schießt „791 km“ auf der Überholspur zum kollektiven Happy End sicherlich über sein Ziel hinaus. Auch bei den dramatischen Zuspitzungen, die stets mit kleinen Vorankündigungen eingefädelt werden, sind die Fingerabdrücke der Plotkonstrukteure deutlich sichtbar.
Die sprachlichen Unsicherheiten und Fehlgriffe der Linguistik-Professorin deuten auf eine beginnende Demenz, Josephs schwarzer Anzug im Kofferraum auf einen Todesfall und die Tampons, die Tiana so großzügig verschenkt, auf eine ungeplante Schwangerschaft. Dennoch füllt sich die Angelegenheit dank des gut aufeinander eingestimmten Ensembles mit Leben. So gewinnt die Figur der Susi, deren kindliche Direktheit allzu offensichtlich als gruppendynamischer Katalysator fungiert, durch die warmherzige Performance von Lena Urzendowsky eine unerwartete Tiefe. Joachim Król, der im fortgeschrittenen Alter sowieso immer besser wird und ein eigenes, sanft glimmendes Charisma entwickelt hat, dimmt so manche plakative Übersteuerung im Skript mit versiertem Understatement souverän herunter. Als Mainstream-Komödie mit Tiefgang erreicht „791 km“ dank seiner Besetzung und treffsicherer Pointen das Unterhaltungsziel, auch wenn man sich an einigen Stellen mehr Subtilität und analytische Schärfe gewünscht hätte.
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