Wie man den Hörsinn schärft: Igor Levit und Daniel Barenboim in Salzburg
Das Gipfeltreffen von Daniel Barenboim und Martha Argerich fällt auch bei den Salzburger Festspielen aus. Doch Igor Levit beschert als Einspringer einen delikaten Beethoven.
Gerne hätte man sie noch einmal zusammen musizieren gehört: Martha Argerich, die 82-jährige große alte Dame am Klavier, und den Dirigenten Daniel Barenboim – beide einst Wunderkinder mit russisch-jüdischen Wurzeln in Buenos Aires, beide temperamentsgetriebene und durchsetzungsstarke Interpreten. Die Schlachten ihres Lebens haben beide geschlagen, nun müssen andere die politischen und ästhetischen Überzeugungen Barenboims und Argerichs fortführen.
Igor Levit springt in Salzburg für Martha Argerich ein
Aber das Gipfeltreffen hat nicht sollen sein, nicht in Luzern, nicht in Salzburg, nicht in Berlin. Martha Argerich musste wegen Krankheit absagen bei dieser Sommer-Tournee des West-Eastern Divan Orchestra, das nun auch schon bald ein Vierteljahrhundert lang eintritt für den Dialog zwischen den Fronten in Nahost. Anstelle von Martha Argerich springt Igor Levit ein, auch er ein politisch klar sich bekennender Musiker, 36 Jahre jung. Und so führt Barenboim im Großen Salzburger Festspielhaus lauter Instrumentalisten an, die Töchter und Söhne seiner sein könnten.
Oben, nunmehr sitzend am Pult, die künstlerische und menschliche Autorität Barenboim, angeschlagen seit seiner neurologischen Erkrankung, die Berlin debattieren lässt, wer auf ihn an der Staatsoper administrativ nachfolgen soll. (Christian Thielemann wird seit Monaten gehandelt – und keiner dementiert.) Und unten an den Pulten und am Klavier die vergleichsweise jungen Musiker, die aufschauen zu so viel Würde, Erfahrung, Wissen. Immer wieder frappierend: Wie Barenboim sich mit dem Alter der Physiognomie und dem Erscheinungsbild Anton Bruckners annäherte.
Levit und Barenboim gestalten Beethoven als Kostbarkeit
Aber Bruckner steht nicht auf dem Programm, auch nicht Chopin mit dem ersten Klavierkonzert, das Martha Argerich spielen wollte, sondern Beethoven mit seinem ersten Klavierkonzert. Noch ist darin ein Komponist zu vernehmen, der einerseits den Anschluss sucht an Mozart und Haydn, andererseits mit Macht sich selbst finden und entwickeln will. Aber das spielt jetzt keine Rolle im Großen Festspielhaus, heute wird nicht der genialische Durchbruch eines Feuerkopfs gegeben, jetzt ist alles darauf ausgerichtet, das C-Dur-Konzert als Kostbarkeit zu entwickeln. Langsam lesend, ausformulierend, ziselierend, zelebrierend. Kein Brio im ersten Satz, kaum mal eine dynamische Stufe, die über mezzoforte hinausgeht. Igor Levit spielt leise, eindringlich flüsternd, fein, distinkt, um der Genauigkeit und des Verständnisses willen. Das Orchester unter Barenboim begleitet gemessenen Schritts.
Der zweite Satz dann ein romantisches Aussingen, mit verweilenden Momenten, weil sie so schön. Und der dritte schließlich, abermals vor allem in piano-Regionen dargeboten, kündet im Glocken- und Glöckchenanschlag Levits mehr von Zärtlichkeit und Liebe als vom kämpferischen Schwung und heraufziehenden Pathos Beethovens. Was Levit und Barenboim hier, durchaus im Geist eines Understatements beziehungsweise unter Hintanstellung von effektvoller Virtuosität gelingt, das ist die Schärfung des Hörsinns von knapp 2200 Lauschenden. Die Folgen: Bannung, Ovationen, dann ein Brahms-Intermezzo zur Zugabe, wiederum behutsam, pfleglich, delikat in den Händen Levits liegend. Am 23. September tritt er mit Beethovens fünftem Klavierkonzert beim Festival der Nationen in Bad Wörishofen auf.
Das West-Eastern Divan Orchestra konzertiert bei den Festspielen
Aus dem Zentrum des klassisch-romantischen, deutsch-österreichischen Repertoires herausgegriffen auch der zweite offizielle Programmpunkt des Abends, Brahms' zweite Sinfonie. Nun steht mit 16 (statt zwölf) ersten Violinen und zehn (statt vier) Kontrabässen ein wesentlich breiterer, voluminöser, sämiger Klangfluss im Vordergrund; nun wird weniger ausformuliert als satt, voller Legato ausmusiziert. Es braucht ein wenig, bis solistische Einsätze punktgenau stehen, bis Brahms' rhythmische Finessen Konturen annehmen. Aber Barenboim wirkt. Die warmherzige Aufführung wird so warmherzig beklatscht, dass abermals eine Zugabe ansteht: das Scherzo aus Mendelssohns Sommernachtstraum, schön schnurrend.
Die Diskussion ist geschlossen.