Intendantenwechsel am Schauspiel Stuttgart. Auf Armin Petras folgt Burkhard C. Kosminski, der wiederum zum Auftakt selbst Regie führt in der deutschsprachigen Erstaufführung „Die Vögel“. Ihm gelingt ein starker, über lange Strecken konzentrierter, am Ende leider auch ein wenig ausufernder Abend, der durchaus als ein Statement begriffen werden kann: keine ironischen Brüche, auch keine Performance-Elemente, dafür klassisches Schauspieltheater, bei dem niemand mal eben schnell aus der Rolle fällt, um noch einen Witz im Vorbeigehen unterzubringen. Stattdessen vertraut Kosminski ganz seinem Stoff und seinem vielsprachigen, überzeugenden und mitreißenden Ensemble auf der Bühne. Beide enttäuschen das Publikum nicht. Langer Jubel am Schluss.
"Die Vögel" erzählt eine jüdisch-arabische Familiengeschichte
Und das für ein Stück, das der libanesische Theatermacher Wajdi Mouawad über weite Strecken in Englisch, Hebräisch und Arabisch geschrieben hat. „Die Vögel“ erzählt eine Familiengeschichte, die in einer Bibliothek in New York mit einem jungen jüdisch-arabischen Liebespaar beginnt, das anfangs nicht wahrhaben will, gegen welche nationalen, kulturellen und historischen Kräfte es sich behaupten muss. Wahida (Amina Merai) und Eitan (Martin Bruchmann) hätten es womöglich geschafft, womit sie aber nicht gerechnet haben: Wie stark die Suchenach ihren Wurzeln sie selbst verändern wird.
Bei ihnen ist das Stück eine am Ende scheiternde Liebesgeschichte, bei Eitans jüdischem Vater David, der zusehends ins Zentrum des gut dreieinhalbstündigen Abends gerückt wird, bekommt der Abend allerdings alttestamentarische Wucht. Itay Tiran gibt diesen David als unbeugsamen Familientyrann, überzeugt davon, eine Verantwortung für all die Vorfahren zu tragen, die im Holocaust vernichtet wurden. Deshalb will David die Liebe seines Sohnes mit allen Mitteln zerstören. Eitan mit einer Araberin - nie, das zerstöre das Andenken, die Familie, den Zusammenhalt, einfach alles.
Die Inszenierung am Schauspiel Stuttgart ist ein gelungener Einstand für Burkhard C. Kosminski
New York, Berlin, Jerusalem - an diesen drei Orten spielt „Die Vögel“, im Schauspiel Stuttgart öffnen sich hinter weißen Papierwänden einfach neue weiße Papierwände, eine unbeschriebene Dingwelt, in der alles möglich wäre, gäbe es nicht die Geschichte, in die jede der Figuren hoffnungslos verstrickt ist. Eitans Mutter und Davids Frau Norah (Silke Bodenbender) in ihre streng kommunistische Erziehung in der DDR, in der sie beiläufig mit 14 Jahren erfuhr, Jüdin zu sein. Ein lebenslanges Identitätstrauma, nur notdürftig bewältigt. Davids Eltern Etgar (Dov Glickman) und Leah (Evgenia Dodina!) tragen ein Familiengeheimnis, über dem ihre Ehe zerbrochen ist, das im Stück ihrem Sohn David das Lebensfundament entziehen wird, nämlich seine tatsächliche Herkunft, die sie ihm verschwiegen haben. Wie wird man Jude oder Araber? Durch Geburt, durch Erziehung? Und wer darf Jude oder Araber sein?
All die Fäden laufen in Jerusalem zusammen, als Eitan durch ein Attentat schwer verletzt wIrd. Den Hintergrund dieses Theaterabends bilden der Nahostkonflikt, der Holocaust, aber auch die moderne Naturwissenschaft, denn Eitan ist Genetiker, er sagt, dass auf den Chromosomen die Erinnerung an den Holocaust nicht gespeichert ist.
Das packt und reißt mit, rührt an und lässt einen nachdenken. Ein mutiges Stück, das das große Weltgeschehen und die Familiengeschichte verschmilzt, ohne dabei alles platt zu machen. Nur das Ende ufert wie ein orientalisches Märchen aus, eine Schlussszene jagt die nächste und die Moral der Geschichte wird auf dem Präsentierteller gereicht. Da wäre ein Vertrauen ins Publikum die bessere Wahl gewesen. Aber immerhin ist es dem Autor Wajdi Mouawad gelungen, ein würdiges, kitschfreies Ende für die komplexe Familiengeschichte zu finden. So bleibt das Zerfrasen am Ende nur ein kosmetisches Problem. Ein starker Einstand des neuen Intendanten Burkhard C. Kosminski.