Auch Deutschland ist in der Pflicht
Mit jedem Tag, den der Krieg in Syrien andauert, werden die Innenminister ihr Quotendenken bei den Flüchtlingen hinterfragen müssen. Denn er zwingt uns auch zur Solidarität.
Es ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Mehr als sechs Millionen Syrer sind vor dem Bürgerkrieg inzwischen in weniger umkämpfte Provinzen oder ins benachbarte Ausland geflohen. Um ihr Leben zu retten, haben diese Menschen alles zurückgelassen, ihr Hab und Gut und häufig auch ihre Angehörigen – in Deutschland allerdings werden in den nächsten Monaten lediglich 5000 von ihnen eine sichere Bleibe finden.
Für ein Land, dem es so gut geht, ist das ein vergleichsweise bescheidener Beitrag, um nicht zu sagen ein beschämend niedriger. Der Ehrlichkeit halber gehören in diese Bilanz der Halbherzigkeit zwar noch die 18000 Syrer hinein, die sich bereits auf eigene Faust nach Deutschland gerettet und dort Asyl beantragt haben. Verglichen mit den Krisen in Bosnien und im Kosovo in den neunziger Jahren jedoch verhält sich das größte Land Europas in der Syrien-Krise seltsam reserviert: Damals kamen mehr als 300000 Flüchtlinge vom Balkan in die Bundesrepublik.
Es ist nicht nur eine Frage des Geldes. Mit einem Beitrag von insgesamt 350 Millionen Euro gehört Deutschland auch im Syrien-Konflikt zu den großzügigsten Helfern. Zwei Jahre nach dem Ausbruch der ersten Unruhen stößt die bisherige Politik der Bundesregierung, mit Lebensmitteln, Medikamenten oder dem Ausrüsten von Lagern und Notunterkünften möglichst direkt vor Ort mit anzupacken, nun aber an ihre Grenzen.
Die Aufnahmebereitschaft von überlaufenen Nachbarländern wie Jordanien oder dem Libanon, in die hunderttausende von Syrern geflohen sind, ist längst erschöpft, den Regierungen dort wachsen die Probleme über den Kopf, was wiederum neue Konflikte heraufbeschwört. Wenn die Lage in einer ohnehin instabilen Region nicht noch instabiler werden soll, wird Europa also nicht umhinkommen, eine deutlich größere Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen, als bisher geplant. Noch immer verlassen jeden Tag 6000 Syrer ihr Land, das ist der größte Exodus seit dem Zusammenbruch Jugoslawiens und dem Völkermord in Ruanda 1994.
Angesichts solcher Zahlen wird sich auch Deutschland seiner humanitären Pflicht nicht entziehen können – obwohl es unter den zehn Ländern, die weltweit am meisten Flüchtlinge aufnehmen, im Moment der einzige westliche Staat ist. Einige Bundesländer haben bereits signalisiert, über das bisher vereinbarte Kontingent hinaus noch Flüchtlinge unterzubringen, auch auf die Gefahr hin, dass in Deutschland dann Syrer erster, zweiter und dritter Klasse leben werden. Die 5000, die jetzt auf dem Ticket der Uno kommen, erhalten zwar „nur“ eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre, können sich aber einen Job suchen und ihr eigenes Geld verdienen. Die, die schon hier sind und einen Asylantrag gestellt haben, bekommen die in solchen Fällen vorgesehene Unterstützung, dürfen aber weder arbeiten noch die Region verlassen, in der sie untergebracht sind. Alle anderen müssen eine besonders hohe Hürde überwinden. Sie können nur einreisen, wenn sie Verwandte in Deutschland haben, die für sie aufkommen.
Menschen, die nicht viel mehr haben als ihr Leben, interessieren sich naturgemäß nicht für die Widersprüchlichkeiten des deutschen Ausländerrechtes. Mit jedem Tag jedoch, den der Krieg in Syrien andauert, werden die Innenminister von Bund und Ländern ihr strenges Quotendenken stärker hinterfragen müssen. Der Bürgerkrieg in Syrien ist die größte politische und humanitäre Tragödie des Jahrhunderts und keineswegs nur wegen seiner außenpolitischen Brisanz eine Herausforderung für die westliche Welt. Er zwingt uns auch zur Solidarität mit seinen Opfern – wie damals in Bosnien.
Die Diskussion ist geschlossen.