Die Gewalt gegen Helfer nimmt auch im Unterallgäu zu
Seit Jahren steigen aber die Übergriffe auf Polizeibeamte und Rettungskräfte auch in der Region. Dabei schält sich immer mehr ein besonderer Tätertyp heraus.
Die massiven Angriffe mit Böllern und Raketen auf Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei in Berlin in der Silvesternacht haben landesweit für große Empörung gesorgt. Vor allem das Ausmaß der Gewalt schockierte. Von Berliner Verhältnissen ist das Unterallgäu zwar weit entfernt. Aber auch hierzulande stellen die Einsatzkräfte eine wachsende Gewaltbereitschaft fest.
Holger Stabik arbeitet als Pressesprecher beim Polizeipräsidium Schwaben Süd/West in Kempten. Für Silvester zumindest kann er Entwarnung für das gesamte Allgäu geben. Es habe keinerlei Übergriffe auf Rettungsdienste, Feuerwehrkameraden oder Polizeibeamte gegeben. Allerdings beobachtet die Polizei seit einigen Jahren mit Sorge, dass die Gewaltbereitschaft auch in der Region zunimmt. Die Zahlen steigen.
An Silvester blieb es im Unterallgäu zwar ruhig, doch dafür gab es in den vergangenen Jahren Angriffe auf Corona-Demonstrationen
So gab es im Jahr 2012 im Landkreis Unterallgäu 38 verbale und tätliche Übergriffe gegen Polizeibeamte. 2017 waren es 78 Fälle. 2020 wurden 72 Angriffe registriert. Im Jahr 2021 waren es 58 Übergriffe. Aktuellere Zahlen liegen nicht vor.
Im gesamten Präsidiumsbereich, der die Allgäuer Landkreise sowie Neu-Ulm und Günzburg mit kreisfreien Städten umfasst, nennt Stabik die Zahlen aus den vergangenen Jahren. 2017 waren es 594 Übergriffe, 2021 stieg diese Zahl auf 683 an. In den Coronajahren hatten Beamte Angriffe wegen der Maskenpflicht zu erleiden, auch auf Demonstrationen.
Im Jahr 2017 wurden bei Übergriffen 165 Beamte verletzt, 2021 waren es 208. Ein besonders krasser Fall hat sich Mitte Dezember in Memmingen abgespielt. Eine Streife der Polizei mit drei Beamten war wegen einer Ruhestörung angefordert worden. Eigentlich eine Nichtigkeit, wie Stabik sagt. Zwei Personen zeigten sich nicht nur verbal aggressiv gegen die Polizisten. Sie schlugen auch gegen Oberschenkel und Brust. Ein Beamter wurde gewürgt, einer mit der Hand im Gesicht getroffen. Eine Frau biss einem Polizisten sogar in die Hand.
Selbst Pfefferspray vermochte die Täter nicht zur Räson zu bringen. Erst als die Polizei den Einsatz von Schlagstöcken androhte, lenkten die Täter ein. Die Folge: Drei Kollegen waren nicht mehr dienstfähig.
Mindelheimer Rettungskräfte lernen Deeskalation und Selbstverteidigung
Angriffe mussten in der Vergangenheit auch Rettungskräfte des Roten Kreuzes erleiden. Der Leiter der Rettungswache Mindelheim, Thomas Müller, sagt aber, dass es in jüngster Zeit ruhig geblieben war. An eine „psychische Ausnahmesituation“ vor Jahren erinnert er sich aber noch mit Schrecken. Ein Mann hatte die Rettungskräfte mit dem Tod bedroht. Der Fall landete dann sogar vor Gericht.
Mitarbeiter des Rettungsdienstes üben sich in Deeskalationsstrategien und Selbstverteidigung. Einzelne schützen sich auch mit Stichschutzwesten. Eigensicherung wird ein immer größeres Thema. Früher galt, den Patienten möglichst schnell zu helfen. Heute schaut man sich eine Wohnung schon mal genauer an, sagt Müller, um sicher zu sein. Und vorsichtshalber macht man einen Schritt zurück, sagt Thomas Müller. Oft seien Drogen und Alkohol im Spiel, wenn es zu Übergriffen kommt.
Mindelheims Feuerwehrkommandant Robert Draeger berichtet, dass es „mittlerweile immer öfters verbale Auseinandersetzungen und Diskussionen mit uneinsichtigen Verkehrsteilnehmern und Passanten“ gebe. Das passiere zum Beispiel, weil eine Straße durch eine Umleitung oder durch laufende Rettungsmaßnahmen gesperrt ist. „Etwas mehr Verständnis für die Arbeit der Rettungskräfte wäre hier wünschenswert“, findet Draeger. Im Schutzbereich der Feuerwehr Mindelheim habe es seines Wissens aber noch keinerlei körperliche Übergriffe auf Feuerwehrleute im Einsatz gegeben, berichtet Draeger. „Ich hoffe, das bleibt auch so.“
Bei einer Ruhestörung an einem Badesee rotteten sich plötzlich fast 100 junge Leute gegen die Polizei zusammen
Polizeibeamte müssen dagegen immer wieder erleben, dass sie ohne Anlass angegangen werden. Da sind Beamte zum Beispiel gerade dabei, einen Diebstahl aufzunehmen, erzählt Stabik. Ein völlig Unbeteiligter geht vorbei und zeigt den Polizisten den gestreckten Mittelfinger. An einem Badesee im Sommer war die Polizei wegen Ruhestörung vor Ort. Plötzlich fanden sich die Beamten einer ganzen Meute von 80 bis 100 jungen Leuten gegenüber, die sich gegen die Polizei zusammengerottet haben.
„Ein Polizeibeamter wird nicht mehr als Respektsperson wahrgenommen, der eine Ansage macht“, sagt Stabik. Wenn es gesellschaftlich klemme, „bekommen wir das schnell mit“. Der Einsatz der Bodycams habe in Einzelfällen zwar Übergriffe verhindern können. Oft ließen sich Angreifer aber davon nicht abbringen.
Die Täter sind zu 84 Prozent männlich. In drei von vier Fällen sind sie Deutsche, sagt Stabik. In 60 Prozent werden die Beamten körperlich attackiert. Vier von fünf Übergriffe gehen auf Wiederholungstäter zurück. In Zahlen für das gesamte Präsidium: 2021 waren es 421 Taten, die von Deutschen gegen Polizeibeamte begangen wurden, 132 von Migranten und 41 von Zugewanderten. Menschen mit Migrationshintergrund seien relativ häufig beteiligt.
Überwiegend finden die Übergriffe auf öffentlichen Straßen oder Plätzen statt. Fast immer stehen die Täter unter Alkoholeinfluss oder anderen Rauschmitteln.
Schon in der Ausbildung müssen sich angehende Polizeibeamte mit Situationen auseinandersetzen, wenn sie selbst angegriffen werden. Wer heute in den Polizeidienst tritt, sagt Stabik, muss damit rechnen, dass er statistisch gesehen einmal in seinem Leben einen körperlichen Übergriff zu erleiden hat – und dies allein deshalb, weil er eine Uniform trägt und seiner Arbeit nachgeht. Grundsätzlich werde den Beamten beigebracht, Konfliktsituationen kommunikativ zu bewältigen.
Die Polizei verlange übrigens von niemandem, dass er Konflikte selbst regelt. „Wir empfehlen Zeugen, sicheren Abstand zu halten“, sagt der Polizeisprecher. Niemand soll sich in Gefahr bringen.
Die Polizei mit dem Handy verständigen und gezielt andere als Zeugen ansprechen, dazu rät Stabik.
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