Die Magie des Objekts: Museum Villa Rot zeigt zwei faszinierende Ausstellungen
Die erste Ausstellung der neuen Kuratorin im Museum Villa Rot zeigt die Grenzen zwischen Alltag und Fiktion. Auch eine zweite Schau dort lohnt sich.
Dinge sind "Güter zum Denken und gut zum Denken". Dieser Leitsatz der US-Wissenschaftlerin Sherry Turkle inspirierte die neue künstlerische Leiterin der Villa Rot, Sophie-Charlotte Opitz, für ihre erste Ausstellung in Burgrieden. Zugleich wollte sie eine enge Verknüpfung zur zeitgleich gezeigten Schau "Is' ja'n Ding – was ein Künstler so sammelt" von Willi Siber. Beide Ausstellungen sollten sich "organisch verbinden", sagt Opitz. Das ist gelungen: Beide Ausstellungen leben vom Erzählen, vom Verbalisieren der Dinge, den Überschneidungen persönlicher Erfahrungen mit der kollektiven Gedächtniskultur.
Der Künstler Siber, zugleich Vorstand der Hoenes-Stiftung, zeigt Höhepunkte seiner eigenen Kunstsammlung, die er seit Jahrzehnten aufbaut, und ergänzt sie durch eigene neue Werke. Seine "Liebe zum Spröden" werde immer wieder durch die Liebe zum Feinen aufgebrochen. Der Sammler als Kenner und Jäger: entsprechend heterogen sind die Positionen in der Kunsthalle, die mit Klein- und Mittelformatigem bespielt wird. Wenn auch das "begrenzte Sammlerbudget" so manches Begehren verhinderte, wie Siber einräumt, so finden sich doch spannende Positionen.
Etwa zwei hervorragende Arbeiten von Camill Leberer: Fräsungen und Schleifspuren auf Stahl ergeben im Zusammenspiel mit farbigen Transparentlacken Effekte, die auf frühe Op-Art-Experimente anspielen, zugleich als grafische Arbeit überzeugen. Die Leipziger Schule ist mit einer kleinen Malerei von Ulf Puder vertreten, die Pop-Art mit zwei Joseph-Beuys-Porträts von Andy Warhol sowie einer Vinylarbeit von Tom Wesselmann. Spannend wird es besonders dort, wo der Sammler Siber sich für junge Kunst begeistert – etwa die surreal anmutenden, körperlichen Malereien des Münchners Benedikt Hipp. Es ist klar: Das meiste der gezeigten Werke kam durch den persönlichen Kontakt zu Siber. Eine Ausstellung, die vom persönlichen Bezug des Sammlers zu anderen Kunstschaffenden lebt, aber auch zu Materialien, die diese verarbeiten.
Ausstellung "Das Zeug zum Erinnern" im Museum Villa Rot in Burgrieden
Womit die Brücke zur Hauptausstellung geschlagen wäre. In "Das Zeug zum Erinnern: Unsere Beziehung zu Objekten und uns selbst" geht es um Sinnlichkeit, Wahrnehmung, Erinnerung und die Wirklichkeit des Objekts.
Was zunächst spröde klingt, entpuppt sich als Entdeckungsreise ins Leben. Über alle Dinge, die unseren Alltag ausmachen, spannt sich der Bogen, mit dem die Erinnerung unsere Wahrnehmung bestimmt. Die Künstlerinnen und Künstler der Gruppenausstellung befassen sich mit der Bedeutung, die wir einem Objekt beimessen, aber auch mit der Konstruktion von Wirklichkeit. Das macht etwa Sinje Dillenkofer in ihren Fotoarbeiten deutlich. Für ihre Serie "Cases" nahm sie in Nahaufnahme die kostbaren, aufwendigen Futterale von historische Behältnissen auf. Es ging ihr nicht um den Inhalt, sondern um die Behältnisse als Raum für Projektionen, Sehnsüchte und Wertevorstellungen. Dass man als Beobachter in einer komplexen Faltenstruktur eine abstrahierte menschliche Wirbelsäule sehen mag, zeigt die Weite der Interpretierbarkeit.
Emotionale Momente in der ersten Schau von Sophie-Charlotte Opitz
Sehr persönlich wird es mit den Arbeiten von Johannes Gramm, der für seine Tochter ein über Tonspur erzähltes, via Fotografie bewahrtes Inventar seines Lebens erstellte, oder mit "Copper Horses" des Engländers Chris Harrison. Dessen fotografische Arbeit ist eine Erkundung, was die enge Vater-Sohn-Beziehung ausmacht. Die hoch empathische Spurensicherung wird anhand der Objekte vorgenommen, die den Vater umgaben und somit ausmachten. Arbeitsschuhe mit Stahlkappen, ein Dominospiel und zahlreiche Teile von Maschinen, an denen der Vater arbeitete und die er den Kindern als Geschenk mitbrachte. Näher kommt die Ausstellung der Frage, wie Dinge und Objekte, wie Material auf uns einwirkt, kaum.
An emotionalen Momenten mangelt es nicht. Das Tagebuch des durch die Rote Armee aus Schlesien in die heutige Ukraine verschleppten Walter Heinisch lichtete dessen Enkel Damian Michael Heinisch ab – bei Sonnenaufgang beginnend, endend im letzten, fast schon verglühten Tageslicht. Das durch Wasser und andere Schäden lädierte Tagebuch wurde im aufwendigen Tricolor-Prozess in der Ukraine fotografiert – am Todesort des Großvaters. Der Verzicht auf Kunstlicht gibt den Aufnahmen ein sinnliches Glühen; die in der Ausstellung erstmalig vollständig präsentierte 51-teilige Fotoserie wird durch die Präsenz des Originals fast überstrahlt. Die Magie des Objekts, des wie ein Kunstwerk inszenierten Zeitzeugnisses wird nur von der geradezu unheimlichen Parallelität der Ereignisse aus Vergangenheit und gegenwärtigem Ukraine-Krieg übertroffen. Zugleich ist es eines der sehr wenigen Originale in der hauptsächlich von Fotografie oder Video getragenen Themenschau.
Reich bebilderter Katalog zur Ausstellung ist im Museum erhältlich
"Das Zeug zum Erinnern: Unsere Beziehung zu Objekten und uns selbst" ist ein überaus gelungener Einstand für die neue künstlerische Leitung der Villa Rot, Sophie-Charlotte Opitz. Zugleich macht diese wohltuend facettenreiche Schau deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen Alltag und Fiktion sind, wie mächtig das Erinnern in Alltägliches hineingreift.
Zur Ausstellung ist ein reich bebilderter Katalog erschienen (18 Euro, erhältlich im Museum). Führungen mit Willi Siber durch die Ausstellung "Is' ja'n Ding – was ein Künstler so sammelt", Kuratorinnenführungen und kindgerechte Führungen werden angeboten. Die Ausstellung ist bis 12. Februar 2023 zu sehen.
Die Diskussion ist geschlossen.