Momo Evers: Ein Winternachtstraum
Autorin des Geschichtenanfangs "Ein Winternachtstraum" ist Momo Evers aus Halle/Saale. Die Geschichte richtet sich an die Altersgruppe 9. bis 13. Klasse:
"Tut mir so leid, verdammt. Ich wollte das nicht. Wir müssen reden. Max."
Das kann alles Mögliche bedeuten, aber ich ahne schon, was dahinter steckt, und mir wird ganz sonderbar zumute, irgendwie ein bisschen schwindelig. Die Welt kippt zur Seite, und ich bekomme keine Luft mehr. Mein Herz ist ein dicker, fester Knoten, geballt wie eine Faust. Ich möchte gern zuschlagen und weiß nicht, wen mein Schlag treffen soll. Meine Mutter, weil sie fort gegangen ist? Mich selbst, weil ich so hilflos bin? Max, weil ich ohne ihn nicht leben kann?
Nur Nele will die Faust nicht schlagen, denn Nele braucht mich. Meine kleine Nele schnorchelt leise im Nachbarzimmer. Sie ist glücklich unter ihren goldenen Prinzessinnenlocken und träumt vermutlich von Rasseln und Teddybären. Sie sorgt sich nicht, und das ist mein Verdienst. Nele ist sicher hier, so lange ich bei ihr bin. Nur fortgehen darf ich nicht, weil ich nicht weiß, wann er zurückkommt: Karsten, der Bruder meiner Mutter, der kam, als sie fort geblieben ist. Sie, meine schöne, meine kluge, meine wahnsinnige, meine wundervolle Mutter. Die mich mit ihrem Motorrad von der Schule abgeholt hat. Die sich Nele beim Einkaufen über die Schulter geworfen hat wie eine Riesin einen jungen Baum. Die uns einen Wald aus Tieren genäht hat, in dem wir glücklich waren, groß geworden sind doch nie erwachsen, Max und ich. Die eines Morgens mit einem Lächeln aus dem Haus ging, mir eine Kusshand zuwarf, und spurlos verschwand.
Zwei Monate ist das jetzt her, und seitdem ist nichts mehr sicher in meiner Welt. Mit Karsten fiel der Wald in unserem Wohnzimmer, das Gewirr aus getrockneten Ästen, das knöchelhohe Laub auf dem Fußboden, der Hirsch aus Pappmaché, die Hasen aus den Pelzmänteln meiner toten Großtanten und das Bärenskelett aus zusammengeknoteten und ausgekochten Knochen vom Schlachthof nebenan. Selbst die Farben sind mit meiner Mutter verschwun-den. Ihre vielen bunten Stoffe, aus denen sie für ihre Kunden Röcke genäht hat und Blusen und Schürzen. All das steckt jetzt in großen Altkleidersäcken und vergammelt zwei Stra-ßenecken weiter im Schneematsch dieses endlos langen Winters.
Wir haben Karsten noch nie gemocht, Max und ich. Karsten trägt immer Anzug mit Bügelfalte, seine Fingernägel sind strahlend sauber, glänzen mit seinem Ledersitzporsche um die Wette, und seit Sabine bei ihm wohnt, ist es noch schlimmer geworden. Sabine war einmal hier, kurz nachdem Mama verschwunden war. Mit gerümpfter Nase ist sie durch unsere Wohnung stolziert, hat nichts berührt und sich nicht hingesetzt in unsere Fellecke unter dem getrockneten Weihnachtsbaum. Max und ich haben gewusst, dass sie Nele inspiziert und überlegt hat, ob dieses Kind zu ihr passen könnte. Wir haben Nele das zerrissene Räuber-kleid angezogen und ihr Gesicht mit Lehm eingerieben.
Sabine ist nicht lange geblieben. "Hier muss eine Wohnungsentrümpelungsfirma ran", hat sie gesagt, und im Flur leise geflüstert: "Um Gottes Willen, Karsten, Deine Schwester war ja wahnsinnig. Die armen, armen Kinder!"
Dann ist sie gegangen, und seitdem warten wir. Eine Frau vom Jugendamt war da, ein Mann vom Vormundschaftsgericht und die Polizei. Und immer wieder Karsten. Wir haben jetzt eine Mikrowelle, Berge von Fertigessen, ein leer geräumtes Wohnzimmer mit frisch gesaugtem Teppich und einer Sitzgarnitur von IKEA aus Karstens pompösem Gartenhaus, die noch leicht nach dem Rauch teurer Zigarren riecht. Max und ich haben den Möbelpackern und der Entrümpelungsfirma schweigend zugesehen. Als sie fort waren, hat Max mich angesehen, ich habe stumm genickt, wir haben die Tür verschlossen und den Schlüssel an das Schlüsselbord gehängt. Niemand von uns hat das Zimmer seitdem betreten.
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