Historiker Andreas Kossert liest in Nördlingen aus seinem Buch "Flucht"
Im Rahmen der Interkulturellen Wochen stellt Historiker Andreas Kossert in Nördlingen sein neues Buch vor. Ihn treibt eine persönliche Geschichte an.
Die Interkulturellen Wochen bringen stets hochkarätige Referenten nach Nördlingen. Dieses Mal stellte, betreut vom Evangelischen Bildungswerk und der Buchhandlung Lehmann, der Historiker Andreas Kossert von der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin sein viel beachtetes Buch „Flucht – eine Menschheitsgeschichte“ vor.
Urgroßvater musste seine Heimat verlassen
Er begründet seinen Bezug zu dem Thema unter anderem aus den Aufzeichnungen seines Urgroßvaters, der 1945 mit seiner Familie seine masurische Heimat verlassen musste und ohne Hab und Gut in der britischen Besatzungszone ankam. Die Erfahrung des erzwungenen Heimatverlusts prägte das weitere Leben der ganzen Familie. Das Anliegen von Kossert, dem Urenkel, ist es, die Perspektive derer, die diese Erfahrung mit sich tragen, einzunehmen. Ihr Schicksal als „Migration“ zu bezeichnen, empfindet er als unangemessenen Euphemismus.
Das Buch verbindet diese emotionale Dimension mit dem klaren Blick und der sachlichen Methodik des Wissenschaftlers. Als Element der „Menschheitsgeschichte“ werden Fluchtbewegungen vielfach überliefert, etwa in der Bibel, aber auch in Nördlingen und im Ries sind sie greifbar, sei es als Geschichte der Salzburger Protestanten, sei es in den noch gegenwärtigen Lebensgeschichten der Sudetendeutschen, der Olmützer, und unzähliger weiterer Gruppen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland Zuflucht suchten und eine „kalte Heimat“ fanden. So lautet der Titel eines 2008 erschienenen Buches von Kossert über die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945.
Fluchtsituationen als Rätsel
Die meisten individuellen Fluchtgeschichten sind nicht überliefert, die wenigsten schriftlich. Notgedrungen musste der Autor Namen und Gesichter heraussuchen, um die verschiedenen Erfahrungsebenen darzustellen. Er verblüffte sein Publikum mit der Darstellung von Fluchtsituationen ohne Zeit- oder Ortsangabe mit der nachträglichen Auflösung des Rätsels: Ob in Afghanistan, Ostpreußen oder Böhmen, als Boatpeople auf dem Chinesischen Meer oder als syrischer Flüchtling auf dem Mittelmeer, als Inder in Pakistan oder Bangladesch, als Israeli in Kurdistan oder als Araber in Palästina – überall und zu den verschiedensten Zeiten werden die gleichen Szenen von Gewalt und Erniedrigung, Not und Angst erlebt und erlitten. Neben Aufzeichnungen und Berichten von Flüchtlingen sind nach Kossert auch belletristische und lyrische Texte wichtige Formen der Verarbeitung des Heimatverlusts. Als eines von mehreren Beispielen dafür wurde Günter Grass genannt, der laut Kossert ohne den Verlust der Danziger Heimat nicht Schriftsteller geworden wäre.
Gemeinsam ist allen Fluchtgeschichten die eine Wurzel: das Streben nach ethnischer und beziehungsweise oder religiöser „Reinheit“ und Einheitlichkeit, wodurch zwangsläufig Minderheiten ausgegrenzt werden. Das Dogma vom einheitlichen Staatsvolk gewann besondere Bedeutung in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts und in der Folgezeit des Ersten Weltkriegs, bis hin zu den „ethnischen Säuberungen“ beim Zerfall von Jugoslawien. Kaum zu glauben, dass Frithjof Nansen, Träger des Friedensnobelpreises, ein Anhänger der „ethnischen Entflechtung“ zwecks Beilegung von internationalen Konflikten war.
Von Ausgrenzung bis Rassismus
Gemeinsam sind allen Fluchtgeschichten auch die Erfahrungsebenen vom „Weggehen“ bis zum physischen „Ankommen“ im Aufnahmeland und der erneuten Begegnung der Geflüchteten mit Ausgrenzung bis zum Rassismus, im weniger schlimmen Fall mit Unverständnis und Ignoranz. Willkommenskultur ist die Ausnahme, häufiger werden Flüchtlinge als „Heuschrecken“ empfunden oder – immer wieder auch von populistischen Politikern – mit noch schlimmeren Bezeichnungen belegt. Das Ankommen der Geflüchteten stellt die Mehrheitsgesellschaft im Ankunftsland auf den Prüfstand. Erkennt sie die Traumatisierung der Geflüchteten an? Gelingt es ihr, die Angekommenen als Bereicherung zu verstehen?
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