Julia Jentsch in "24 Wochen": Eine Frage von Leben oder Tod
Mit dem Abtreibungsdrama "24 Wochen" gib es auf der Berlinale 2016 einen deutschen Beitrag, der bewegt. Und es gibt zwei starke Kandidaten aus Frankreich.
Kein Mensch kann Berlinale-Chef Dieter Kosslick vorwerfen, dass er das deutsche Kino schlecht behandelt. Im Gegenteil: Seit er sein Amt 2001 übernommen hat, waren regelmäßig drei bis vier Produktionen des Gastgeberlandes im Wettbewerb vertreten – auch wenn längst nicht alle ausgewählten Werke wirklich konkurrenzfähig waren. Wenn also das Auswahlgremium in diesem Jahr nur eine einzige hiesige Produktion in den Wettbewerb aufgenommen hat, dann sagt das einiges über den Zustand des deutschen Kinos im Jahre 2016 aus.
Einziger deutscher Beitrag bei Berlinale 2016 mit Julia Jentsch
„24 Wochen“ von Anne Zohra Berrached ist der alleinige deutsche Wettbewerbsbeitrag. Immerhin: Der hat es ganz schön in sich. Zu Beginn steht Julia Jentsch als Kabarettistin auf der Bühne und streckt ihren schwangeren Bauch lässig der TV-Kamera entgegen. Auch wenn Astrid im Licht der Öffentlichkeit steht, führt sie mit ihrem Lebensgefährten Markus (Bjarne Mädel) samt Töchterchen ein entspanntes Familienleben. Als sich bei Voruntersuchungen herausstellt, dass das Ungeborene am Down-Syndrom leidet, ist für beide klar, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht infrage kommt. Sie bereiten sich auf das Leben mit einem behinderten Kind vor – bis im Zuge einer weiteren Untersuchung beim Embryo auch noch ein Herzfehler entdeckt wird. Während Markus an der gefällten Entscheidung festhalten will, beginnt Astrids Gewissheit zu schwinden.
Basierend auf ausführlichen Recherchen erzählt „24 Wochen“ von den Gewissenskonflikten, denen Mütter und Väter ausgesetzt sind, die über Leben und Tod ihres Kindes entscheiden müssen. Der Film bezieht keine moralische Position. Durch seine große emotionale Genauigkeit und den Mut zur konsequenten Differenziertheit erzielt er mitreißende Wirkung – und muss sich im bisher eher durchwachsenen Wettbewerb nicht verstecken. Nach der starbesetzten Eröffnung wurde der rote Teppich vor dem Berlinale-Palast zur hollywoodfreien Zone, denn das erste Wettbewerbswochenende gehörte voll und ganz dem europäischen Kino. Vor allem Frankreich zeigte erneut, was es am besten kann: Storys aus dem Alltag zu entwickeln und organisch zu dramatisieren, Figuren aus Fleisch und Blut zu erschaffen, die das Publikum ohne Plot-Akrobatik überraschen.
„Quand on a 17 ans“ erzählt eine solche Geschichte von zwei Jungen in der alpinen Provinz, die in eine Klasse gehen und sich nicht ausstehen können. Mit der Wucht der heranwachsenden Männlichkeit fallen sie immer wieder übereinander her, ohne dass man dafür einen Grund erkennen kann. Altmeister André Téchiné erzählt eine Geschichte voller jugendlicher Gewalt und Leidenschaft, die bis zum Schluss ihre Unberechenbarkeit bewahrt – und mit Corentin Fila und Kasey Mottet Klein zwei fabelhafte Nachwuchsschauspieler vorstellt, die sehr gute Aussichten auf einen Silbernen Bären haben.
Frankreich sorgte dann auch noch mit Isabelle Huppert für den notwendigen Wochenendglamour. In Mia Hansen-Løves „L’Avenir“ spielt sie eine Philosophie-Lehrerin, die sich, nachdem die Kinder aus dem Haus sind, der Mann sich von ihr getrennt hat und die pflegebedürftige Mutter gestorben ist, neu in ihrem Leben orientieren muss. Huppert, die man in den letzten Jahren auf der Leinwand oft ein wenig überroutiniert erlebt hat, spielt diese Frau mit enormer körperlicher Präsenz. Davor kann sich das deutsche Kino nur verbeugen und Besserung geloben.
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