Experte befürchtet, dass wir noch lange mit Terror zu tun haben werden
Rolf Tophoven beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Terrorismus. Ein Gespräch über Mörder, die völlig wahllos töten, und die Frage, was die Anschläge mit unserer Psyche machen.
Noch wissen wir nicht sicher, ob es sich in Nizza um einen Anschlag mit islamistischem Hintergrund handelt. Aber wieder ist Frankreich das Ziel eines blutigen Anschlags. Warum steht das Land im Visier von Terroristen?
Tophoven: Man muss davon ausgehen, dass Frankreich – und das trifft auch auf Belgien zu – sehr stark von islamistischen Kadern durchsetzt ist. Dazu kommen weitere Faktoren. Erstens: Frankreich engagiert sich in der Anti-Terror-Koalition gegen den sogenannten Islamischen Staat in Syrien und im Irak. Zweitens: Frankreich hat eine lange Kolonialgeschichte im nordafrikanischen Raum. Und drittens haben viele Einwandererfamilien in Frankreich ihre Wurzeln in den Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien. Diese Menschen sind zwar im Land aufgewachsen, aber sie leben häufig in den Elendsquartieren der Großstädte. Und dort gedeihen Frustration und Abneigung gegen die freizügige, offene französische Gesellschaft. Das spielt bei der Rekrutierung islamistischer Kämpfer eine erhebliche Rolle, wie das Attentat auf Charlie Hebdo und das Blutbad im November gezeigt hat.
Bislang gibt es keinen Hinweis auf eine direkte Verbindung zwischen dem Täter und einem Terror-Netzwerk oder gar auf einen Auftrag. Was spricht trotzdem für ein islamistisches Motiv?
Tophoven: Der Täter wurde möglicherweise inspiriert und radikalisiert durch Audio- und Videoclips der IS-Propaganda. Dazu überhöhen viele Islamisten ihre Tat, indem sie mit dem IS quasi als Logo werben. So war es bei den Attentätern kürzlich in Orlando. Diese Männer waren nicht im nahöstlichen Kriegsgebiet oder in den Ausbildungscamps des IS, aber sie profilieren sich als IS-Kämpfer. Dabei nehmen sie ihren eigenen Tod bei einer Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften in Kauf.
Müssen sich Frankreich – und möglicherweise auch Deutschland – auf diese Art von Anschlägen einstellen, die mit wenig Logistik auskommen?
Tophoven: Ja. Wir haben ein neues operatives Phänomen in Europa, nämlich das Szenario: Anschlag mit einem Fahrzeug. Neu ist, dass dieses Instrumentarium jetzt erstmals auch in Europa zum Einsatz gekommen ist. Denn der Täter hatte die Garantie, möglichst viele Menschen, die ja völlig unvorbereitet waren, in den Tod reißen zu können.
Das heißt, die Sicherheitsbehörden müssen künftig auch auf Auto- und Lkw-Vermieter ein Auge haben?
Tophoven: So weit würde ich nicht gehen. Der Anschlag von Nizza demonstriert ein perfides Kalkül. Es war der Nationalfeiertag, es gab das Aufatmen der Nation nach der relativ ruhig verlaufenen Europameisterschaft. Und jetzt folgt plötzlich der große psychologische Schock auch für die Sicherheitsbehörden in dem Augenblick, als man dachte, den Ausnahmezustand herunterfahren zu können. Daher greift der Anschlag jetzt tief in die Psyche der Menschen ein und er strahlt mit Sicherheit auf Europa aus.
Wie wirkt sich das aus?
Tophoven: Für alle, die hier ein Volksfest, ein Sommerfest oder bald das Oktoberfest besuchen, hat der Nizza-Anschlag Auswirkungen. Das ist vom Täter kalkuliert. Diese Attentate sind bei uns nicht auszuschließen. Und man muss in Betracht ziehen, dass auch Autos als Tatwaffe eingesetzt werden. Das bedeutet nicht, jeden Lastwagen ins Visier zu nehmen, aber es hat sich gezeigt, dass die Bandbreite des terroristischen Vorgehens weit zu fassen ist. Man hat kaum eine Chance, solche Taten zu verhindern.
Diskreditieren diese Täter durch die Blutbäder nicht ihr eigenes Leitbild, nämlich den Islam, den sie überall verbreiten wollen?
Tophoven: Der IS hat ja eine politische Ideologie aufs Gleis gesetzt, und zwar den Anspruch, die echten und elitären Muslime zu verkörpern. Davon grenzen sie sich von jenen Muslimen ab, die mit dem Westen Geschäfte machen. Es handelt sich um eine kleine Minderheit, die den Koran pervertiert zur Rechtfertigung ihrer Taten. Das ist etwas ganz anderes als der Linksterror der 70er Jahre, als die Opfer gezielt ausgewählt wurden. Die RAF hätte nie einen Massenmord veranstaltet, weil das dem sympathisierenden Umfeld nicht zu vermitteln gewesen wäre. Jetzt wird gebombt, geschossen, gemordet, ohne Diskussion, weil die Islamisten sagen: Wir haben den Anspruch, die richtigen und wahren Muslime zu sein. Dieser Ausschließlichkeitsanspruch macht diese Menschen so gefährlich.
Es scheint, je mehr der IS im Nahen Osten militärisch in die Enge getrieben wird, desto häufiger kommt es zu Anschlägen in Europa.
Tophoven: Das ist so. Je mehr Niederlagen der IS einstecken muss, umso größer ist die Gefahr, dass der Terror exportiert wird, um das Zurückweichen im eigentlichen Kriegsgebiet zu kompensieren. Das führt zu Anschlägen – auch weltweit, wie die Bluttat in Bangladesch zeigt. Man kann eine eindeutige Strategie darin erkennen.
Wenn eines Tages der IS militärisch gänzlich besiegt ist, bleibt die Bedrohung des exportierten Terrors?
Tophoven: Ja, sicher. Denn die politische Ideologie des IS haben viele Islamisten und Sympathisanten noch in den Köpfen. Das ist das eigentliche Problem. Daher glaube ich, dass wir noch lange mit diesem Terror-Phänomen zu tun haben werden, egal wie der Krieg in Syrien und im Irak ausgeht.
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