Libyen: Wie ein Filmemacher nach der Wahrheit sucht
Viele der Flüchtlinge, die nach Europa wollen, hausen in Lagern in Libyen. Kaum einer kennt die Situation. Wie Michelangelo Severgnini nach der Wahrheit sucht.
Michelangelo Severgnini hat die erste Nummer auf dem Smartphone gewählt. Der italienische Filmemacher blickt auf den Bildschirm, wartet, doch niemand hebt ab. Severgnini wischt den Anruf weg und klickt einen neuen Kontakt in seinem Adressbuch an. Aber "Hassan Libya" nimmt nicht ab. Nächster Versuch, "George Libya", wieder klingelt es. Severgnini, der in einer Mietwohnung in der tunesischen Stadt Medenine sitzt, weiß, dass die Verbindung in das umkämpfte Nachbarland Libyen unzuverlässig ist. Doch dann knackt es in der Leitung, "George Libya" ist dran. "Wo bist du? Wie geht es dir?", ruft Severgnini in sein Telefon. Es rauscht am anderen Ende. George erzählt, wie die Miliz von Misurata ihm sein Geld abgeknöpft hat. "Sie kommen in unsere Unterkünfte und bedrohen uns." Und dass er danach verschwand.
Severgnini, 44, führt jeden Tag solche Gespräche. Dann sitzt er da, über sein Smartphone gebeugt, und hört Migranten zu, die ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen haben. Und die jetzt, im Bürgerkriegsland Libyen, wieder um ihr Leben fürchten.
George, der 18-Jährige am anderen Ende der Leitung, hat sich aus dem Südsudan aufgemacht, mehr als 3000 Kilometer, den Großteil davon durch die Wüste. Seit anderthalb Jahren ist er nun in Libyen. Jetzt erzählt er davon, dass er auf der Flucht vor der Miliz in Misurata einen Freund zurücklassen musste, den ein Schuss ins Bein getroffen hatte. Kein Krankenhaus wolle einen Schwarzafrikaner behandeln, erklärt er. George ist nun in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Er wisse, dass seine Überlebenschancen nicht gut sind, sagt er. Seine dunkle Hautfarbe verrät, dass er Südsudanese ist. Um die allmächtigen Milizen zu bestechen, braucht er Geld. Also wird er versuchen, Arbeit zu finden. Aber oft werde der Lohn in Libyen an Flüchtlinge nicht ausgezahlt. Warum denn auch, wenn die Afrikaner mit dem Gewehr im Nacken sie umsonst tun? Aber George weiß, dass es noch schlimmer kommen kann. "Sie töten uns, als wären wir weniger wert als Tiere."
Acht Jahre nach dem Gaddafi-Sturz taumelt Libyen am Abgrund
Libyen taucht in diesen Tagen fast täglich in den Nachrichten auf, wenn es um Seenotrettung geht. Viele der Flüchtlingsboote, die im Mittelmeer treiben, legen dort ab. Doch die Hoffnung mancher EU-Politiker, das Problem in Zusammenarbeit mit dem Land zu lösen, hat der zuletzt erneut aufgeflammte Bürgerkrieg zerstört. Acht Jahre nach dem Sturz des Langzeitmachthabers Muammar al-Gaddafi taumelt Libyen am Abgrund.
Das nordafrikanische Land galt bereits zuvor als Hölle für Flüchtlinge. Schwarzafrikaner wurden in Haftanstalten gesperrt, gefoltert, als Sklaven verkauft. Nun aber geraten viele von ihnen zwischen die Fronten eines blutigen Machtkampfs – auf der einen Seite die international anerkannte Regierung von Premierminister Fayiz as-Sarradsch, auf der anderen Seite General Khalifa Haftar, der seit Monaten versucht, Tripolis zu erobern. Zuletzt rief er den totalen Luftkrieg gegen die Hauptstadt aus. Wie ernst es ihm ist, zeigte der Raketenangriff auf ein Flüchtlingscamp im Vorort Tajoura vergangene Woche. 53 Menschen starben, 130 wurden verletzt.
Hunderte, die den Angriff überlebt haben, sind inzwischen in einen Hungerstreik getreten. Sie fordern, dass sie aus dem Land gebrachten werden, und wollen Zusagen der Vereinten Nationen, dass das Lager nicht erneut angegriffen wird, hieß es am Dienstag. Die libysche Einheitsregierung denkt unterdessen darüber nach, die umstrittenen Lager zu schließen und die Flüchtlinge freizulassen. Nach UN-Schätzungen werden rund um Tripolis etwa 3800 Migranten gegen ihren Willen festgehalten.
Flüchtlinge aus Libyen werden in Ketten gelegt und zur Arbeit gezwungen
Es sind Menschen, zu denen der italienische Filmemacher Severgnini täglich Kontakt sucht. Noch in der Nacht, in der das Lager Tajoura angegriffen wurde, hat ihm ein Flüchtling ein Video geschickt. Dessen Stimme klang ruhig, als er von den zwei Flugzeugen erzählte, die Raketen auf den Hangar abgefeuert hatten, in denen die Migranten untergebracht waren. Diejenigen, die sich aus den Trümmern befreien konnten, warteten unter freiem Himmel darauf, dass irgendjemand sie evakuiere, berichtete der Mann. Severgnini veröffentlichte die Nachricht umgehend online. Nun kann sich jeder im Internet anhören, was der Überlebende von Tajoura zu sagen hat.
Severgnini, der Italiener, stammt aus einem Land, das seine Häfen dichtgemacht und Rassisten in die Regierung gewählt hat. Es ist auch sein Gewissen, das ihn treibt. Seit vergangenem Jahr baut er über Whatsapp Kontakt zu Flüchtlingen in Libyen auf. Severgnini will nicht allzu sehr ins Detail gehen, er sorgt sich um die Sicherheit seiner Gesprächspartner. Er verrät nur, dass er die Nummer von Menschen herausfinden kann, die sich in Libyen in soziale Netzwerke einwählen. So sei es ihm gelungen, detaillierte Berichte innerhalb und außerhalb der Lager zu sammeln. Er weiß von Menschen, die in Ketten gelegt und zur Arbeit gezwungen wurden, von Folterungen, Misshandlungen und Tötungen in den Lagern. "Es sind Zustände wie im tiefsten Mittelalter", sagt Severgnini. Aus den Geschichten produziert der Filmemacher einen Blog, der den Namen "Exodus" trägt – wie die Flucht aus Ägypten im Alten Testament.
Severgnini hat sich schon lange vor dem Ausbruch des jüngsten Konflikts mit der Lage der Schwarzafrikaner in Libyen beschäftigt. Deren Situation habe sich nach 2016 geändert, sagt er. Fayiz as-Sarradsch wurde im März 2016 Ministerpräsident einer international anerkannten Übergangsregierung. Die Hoffnung, er könne Libyen aus den Klauen der Milizen befreien, erfüllte sich nicht. Sarradschs Macht blieb selbst in Tripolis abhängig vom Wohlwollen lokaler Verbände. Seit Beginn der Offensive von General Haftar sei der Präsident mehr denn je auf die Gunst der Warlords angewiesen. Denn Haftar, der Militär aus Gaddafi-Zeiten, verfügt über diszipliniertere Truppen.
Wie viel Geld sich mit den Flüchtlingen aus Libyen verdienen lässt
Die 700.000 afrikanischen Flüchtlinge im Land wiederum sind nach Severgninis Worten die derzeit wichtigste Ressource für Libyens Milizen – bedeutender als das Öl. Schon, weil sie in einem Land mit sieben Millionen Einwohnern Hunderttausende ohne Lohn für sich arbeiten lassen könnten. Eine Menge Geld ließe sich mit Erpressung verdienen, meint Severgnini. Schließlich hätten die Flüchtlinge Geld für die Überfahrt zusammengekratzt. Sind diese Mittel aufgebraucht, würden die Verwandten zu Hause erpresst. "Die libyschen Milizen arbeiten mit der Mafia in Nigeria oder Ghana zusammen. Sie schicken ihren Kontaktleuten Videos von gefolterten Migranten und die stellen dann Lösegeldforderungen an die Angehörigen", sagt der Italiener. Und je mehr Migranten nach Libyen kämen, desto reicher und mächtiger würden die Milizen der Regierung.
Deren Gegner, General Haftar, wisse genau, dass die Migranten das Pfund sind, mit dem die Milizen wuchern. Nicht zufällig begann Haftar seine Offensive gegen die libysche Übergangsregierung im März mit Eroberungen im Süden des Landes. "Er hat die wichtigste Fluchtroute unter seine Kontrolle gebracht, um die Milizen vom Nachschub an Migranten abzuschneiden", sagt Severgnini. Auch das Stocken seiner Offensive könnte mit den Flüchtlingen zu tun haben. Regierungsnahe Milizen verschleppten tausende illegaler Migranten in provisorische Lager wie das in Tadjura, das vergangene Woche angegriffen wurde. "Haftar kann nur vorrücken, wenn er ohne Rücksichtnahme da durchmarschiert und ein Blutbad anrichtet. Das würde ihn international ächten", sagt Severgnini.
Der Italiener humpelt auf Krücken auf den Balkon seiner Wohnung im tunesischen Medenine. Severgninis Sehne am rechten Fuß ist vor einigen Wochen bei einem Unfall gerissen. Er musste sich in Italien behandeln lassen. Sobald es ging, setzte er sich wieder in einen Flieger nach Tunesien. Dabei ist die räumliche Nähe zur libyschen Grenze gar nicht so wichtig für seine Arbeit, sagt Severgnini. Alles, was er braucht, ist eine funktionierende Internetverbindung. Er habe die Möglichkeiten, die Blackbox Libyen auszuleuchten, sagt der 44-Jährige. Dinge aus dem Land zutage zu fördern, die der Öffentlichkeit bisher verborgen geblieben sind. Aber daran, sagt er, gebe es kein Interesse. Schon, weil die italienische Regierung dann den Sinn ihrer Allianz mit Tripolis hinterfragen müsste.
Wie aber soll es weitergehen? Bundesentwicklungsminister Gerd Müller fordert in einem Interview einen sofortigen internationalen Rettungseinsatz für die Flüchtlinge in Libyen. "Wir dürfen keinen Tag länger abwarten. Die Menschen in den dortigen Elendslagern haben die Perspektive, in den Camps durch Gewalt oder Hunger zu sterben, auf dem Rückweg in der Wüste zu verdursten oder im Mittelmeer zu ertrinken." Das UN-Flüchtlingshilfswerk fordert unterdessen von der EU mehr Engagement für die Migranten in Libyen. Ziel müsse eine Freilassung aller Menschen aus den Lagern dort sein, sagte der UNHCR-Repräsentant in Deutschland, Dominik Bartsch, der Welt. "Die Evakuierung der Flüchtlinge außer Landes ist eine lebensrettende Notlösung."
Auch für Michelangelo Severgnini, den italienischen Filmemacher, der täglich Kontakt zu Flüchtlingen in Libyen sucht, gibt es keine andere Lösung für die humanitäre Krise im Bürgerkriegsland. Evakuiere die internationale Gemeinschaft die Afrikaner aus Libyen, könne sie danach entscheiden, wer Anrecht auf Asyl hat und wer als Wirtschaftsmigrant in seine Heimat zurückkehren muss. "Viele meiner Kontakte sind bereit zurückzugehen, wenn sie jemand aus Libyen herausholt", sagt Severgnini. (mit dpa)
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Das kommt dabei heraus, wenn die westliche Wertegemeinschaft einen u.U. vermeintlichen Despoten stürzt und keinen Plan hat, wie man danach verfahren soll. Und auch wenn man hauptsächlich auf den Bürgerkrieg blickt muss gesagt werden, dass westliche Regierungen sich eine willfährige Regierung in Libyen wünschen, die ihnen die Flüchtlinge vom Hals hält.
Mit welchen Mitteln ist dabei Nebensache.
Der deutsche Entwicklungsminister Müller ist dabei ein sehr positives Beispiel, bis er soweit war hat er sich auch entwickeln müssen.