Das kleine Wunder daheim, das große Wunder da draußen
Berlin 9. November 1989: Die Mauer fällt. Nico Bauer ist exakt zu diesem Zeitpunkt auf die Welt gekommen. Der 9. November ist daher auch für ihn etwas Besonderes.
Von Olivia Fritz, dpa
Berlin 9. November 1989: Die Mauer fällt. Fast drei Jahrzehnte lang hat sie eine ganze Nation geteilt - dann reißen Zehntausende Menschen sie friedlich nieder. Nico Bauer ist exakt zu diesem Zeitpunkt auf die Welt gekommen. Der 9. November ist daher auch für ihn etwas Besonderes.
"Ich wusste lange nicht, was mein Geburtsdatum bedeutet, das haben mir später meine Eltern erklärt", sagt Nico, der am Freitag seinen 18. Geburtstag feiert. Über seinem Bett hängt ein großes Bild. Es zeigt die Szenen jener Herbstnacht, als Deutschland wieder zusammenwächst. Tanzende Menschen auf der Mauer, darunter das historische Datum.
Nico hat sich Zeit gelassen mit seiner Geburt - erst acht Tage nach dem ausgerechneten Termin war es so weit. Am Morgen des 9. November fährt seine Mutter in die Klinik. Die gebürtige Berlinerin Petra A. Bauer liegt in den Wehen, als einige Kilometer weiter auf der anderen Seite in Ostberlin die DDR-Oberen über eine neue Ausreiseregelung beraten. Unter der DDR-Bevölkerung brodelt es. Tausende verlassen seit dem Sommer über Ungarn, die Tschechoslowakei und Österreich die DDR. In Leipzig und anderen Städten verlangen Demonstranten mehr Freiheit und Reformen im Arbeiter-und-Bauern-Staat.
Um 11 Uhr kommt der kleine Nico zur Welt. "Um 17 Uhr waren wir wieder zu Hause und haben unser kleines Wunder bestaunt. Das große Wunder draußen haben wir gar nicht mitbekommen", erinnert sich Nicos Mutter. Die junge Familie ist gerade einmal knapp zwei Stunden zurück aus der Klinik, da gibt SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski eine Pressekonferenz, die in die deutsche Geschichte eingeht. Er verkündet, dass ständige Ausreisen über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen können - und zwar "unverzüglich". Die Pressekonferenz löst eine Lawine aus.
Während Petra Bauer ihren Sohn zum ersten Mal stillt, strömen Tausende DDR-Bürger an die Grenze nach Westberlin. Die Grenzsoldaten sind angesichts der Wucht der Massen überfordert. Sie können und wollen die bestgeschützte Grenze der Welt nicht länger bewachen und öffnen ohne Befehl die Übergänge. Die Menschen strömen über die Grenze, fallen sich in die Arme, es beginnt ein "Trabi-Rennen" Richtung Westen.
Petra Bauer ahnt nichts von den Vorgängen der Nacht, obwohl sie nur 200 Meter von der Mauer entfernt wohnt. Ihre Hebamme überrascht sie am nächsten Morgen. Die in Berlin im Schatten der Mauer geborene junge Mutter glaubt an einen Scherz. "Ich hab es erst geglaubt, als ich die ersten Trabis durch unsere Straße fahren sah." Drei Tage nach Nicos Geburt geht die junge Familie zum ersten Mal spazieren - und guckt sich Ostberlin an.
Für den jetzt volljährigen Nico ist das alles sehr abstrakt. "Ich weiß zwar, dass Deutschland geteilt war, aber vorstellen kann ich es mir überhaupt nicht mehr", sagt das Geburtstagskind. "Ich sehe überhaupt keinen Unterschied zwischen Ost und West, aber das ist ja auch alles Geschichte. Entscheidend ist doch die Zukunft von Deutschland", sagt der Schüler und wünscht seinem Land weniger Arbeitslose, denn das sei das zentrale Problem.
Wie in jedem Jahr wird sich Nico wieder mit den anderen "Novemberkindern" aus Berlin treffen. Es sind fast 80, die an jenem historischen Tag dort zur Welt gekommen sind.
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