Mein Leben ohne Matthieu nach dem Anschlag im "Bataclan"
Aurélie Silvestre ist schwanger, als ihr Freund im Musikklub „Bataclan“ ein Konzert besucht. Er schickt ihr noch eine SMS. Dann wird er ein Opfer des Terrors. Ein Jahr ist das her.
Über den 13. November 2015 sagt Aurélie Silvestre: „Es war ein Freitag, das Leben war schön.“
Am Morgen hat die junge Französin ihrem Freund Matthieu Giroud in einer SMS geschrieben, dass sie ihn liebt und er ein toller Vater für ihren gemeinsamen dreijährigen Sohn Gary sei. Sie ist im fünften Monat schwanger und erwartet ein Mädchen. Am Abend bricht der 38-jährige Dozent für Geografie zur Konzerthalle „Bataclan“ auf, wo die US-Band „Eagles of Death Metal“ spielt. Um 21.46 Uhr erhält Aurélie Silvestre von Matthieu eine SMS: „Das ist Rock!“
Es ist sein letztes Lebenszeichen.
Paris, 365 Tage später, ein grauer Sonntag. „Grégory Fosse…“, beginnt die Stimme. „Valentin Ribet… Lola Salines…“ Minutenlang geht das so. 90 Namen sind es, die verlesen werden, einer nach dem anderen. Dann kommt er: „Matthieu Giroud.“ Aurélies Matthieu. Schließlich ist Stille. Alle verharren in einer Gedenkminute, die länger als eine Minute dauert, während dünner Regen vom Himmel nieselt.
Der Terror ist nach Paris zurückgekehrt
90 Menschen. Sie wollen an jenem 13. November 2015 einen fröhlichen Abend verbringen. Im „Bataclan“ ist das Konzert der „Eagles of Death Metal“ in vollem Gange, als drei bewaffnete Terroristen in den Saal stürmen und mit Kalaschnikows ins Publikum schießen, bis sie schließlich bei einem Polizei-Einsatz getötet werden. Zeitgleich sind ihre Komplizen, die demselben islamistischen Terror-Netzwerk angehören, in Paris und dem Vorort Saint-Denis unterwegs. Drei sprengen sich dort vor dem Fußball-Stadion Stade de France in die Luft, wo gerade ein Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Frankreich läuft, und reißen einen Mann mit in den Tod. Ein weiteres Mord-Kommando fährt durch das Viertel um den Platz der Republik und schießt vor Bars und Restaurants auf die Gäste. Insgesamt 130 Menschen werden in dieser Nacht getötet und mehr als 350 verletzt.
Der Terror ist nach Paris zurückgekehrt. Und verändert ein ganzes Land. Präsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls sprechen vom „Krieg“ gegen den Terrorismus, von absoluter Härte gegen jene, die Frankreich so tief getroffen haben. Sie werden in der Folge den Ausnahmezustand verhängen, der jetzt wieder verlängert werden soll, die Polizei- und Sicherheitskräfte aufstocken, die Bombardierungen gegen Stellungen des sogenannten „Islamischen Staates“ in Syrien und dem Irak verstärken.
Der „Krieg gegen den Terror“ bekommt Priorität. Was auch im Alltag zu spüren ist. Massenveranstaltungen fallen aus. Der Tourismus erleidet einen deutlichen Rückgang. Und was ist mit dem Alltag im Leben von Aurélie Silvestre?
Sie kann es sich „nicht leisten, in Trauer zu versinken“
Weil sie nichts von Matthieu gehört hat, ruft sie in der Nacht des Schreckens alle Krankenhäuser von Paris an. Zunächst hat es geheißen, er sei am Leben, sie und Sohn Gary sollten auf weitere Nachrichten warten. Eine Fehlinformation. „Irgendwann verstanden wir, dass es doch etwas komplizierter war…“, sagt die hübsche junge Frau heute und versucht ein Lächeln. Der 14. November 2015, der Tag danach, ist für sie der eigentliche Horror-Tag.
Und doch will die 35-Jährige die Opferrolle nicht annehmen. Sie kann es sich „auch gar nicht leisten, in Trauer zu versinken“. Gary und Thelma, ihre inzwischen geborene Tochter, brauchen sie. Aurélie Silvestre sagt, das vergangene Jahr sei für sie zwar „eine Aufeinanderfolge von 14. November“ gewesen, aber zugleich jeder Tag ein Sieg über den vorherigen. Einmal, so erzählt sie, hat sie im Fernsehen einen Beitrag gesehen, in dem es um ein Opfer ging. „Er hatte ein dreijähriges Kind und sollte im Frühjahr eine kleine Tochter bekommen.“ Sie habe gedacht: „Mein Gott, seine arme Frau!“ Und dann erst realisiert: Diese Frau ist sie selbst.
Wie macht man also weiter nach einem solchen Erlebnis, das jede Leichtigkeit vertrieben hat? Wie zieht man seinen Mann für die Ewigkeit an?, fragt sie sich, als sie seine letzte Bekleidung auswählen soll. Den Alltag einer „amputierten Familie“ beschreibt Aurélie Silvestre im Buch „Unsere 14. November“ („Nos 14 novembre“), das gerade auf Französisch erschienen ist.
---Trennung _"Ihr werdet meinen Hass nicht kriegen"_ Trennung---
Es reiht sich ein in mehrere Bücher, mit denen Opfer oder Hinterbliebene schreibend versuchen, den Schmerz zu verarbeiten. Sie werden gelesen, weil diesen Schmerz auch Franzosen empfinden, die selbst niemanden verloren haben. Sie fühlen sich betroffen vom Comic „Mein Bataclan“, in dem ein 59-jähriger Grafiker sein Erleben der Mordnacht in der Konzerthalle schildert. Oder von dem Buch „Ein schönes Team“ („Une belle Équipe“) von Grégory Reibenberg, dem Betreiber der Bar „La Belle Équipe“, vor der 19 Menschen getötet wurden, darunter seine Frau. Andere Bücher befassen sich mit einer minutiösen Rekonstruktion der Geschehnisse oder dem „Kriegszustand in Paris“, den der Chef-Medizinier der Elite-Einheit Raid beschreibt.
„Ihr werdet meinen Hass nicht kriegen“ – mit diesen Zeilen in Richtung der Attentäter hat der Journalist Antoine Leiris das Land bewegt. Leiris’ Frau Hélène starb im „Bataclan“. Auch er hat ein Buch geschrieben, in dem er den Alltag mit dem gemeinsamen Sohn Malvin schildert. Es wurde ein Bestseller, sein Plädoyer für die Liebe und die „Notwendigkeit zu leben“, während die Welt weiter vom Terror erschüttert wird – Brüssel, Nizza, Istanbul. Gegen den Hass habe er nur eine Kerze, schreibt er. „An dem Tag, wo wir keine Kerzen mehr anzünden, werden wir wie sie geworden sein.“
Die Pariser leben ihr Leben weiter. Die damals betroffenen Bars und Cafés haben längst wieder geöffnet. Erst bei genauem Hinsehen fällt im Restaurant „Casa Nostra“ das Blatt an der Wand mit den Worten „Peace, Love, Freedom, together“ auf. Auch im Café „La Bonne Bière“ herrscht normaler Betrieb, und nur sehr vorsichtig will Betreiberin Audrey Bily über den 13. November sprechen. „Wir sind doch in erster Linie Gastronomen…“
Er wünscht sich eine tolerantere Gesellschaft
Es passt ins Bild, dass die Gedenkfeiern am Sonntag mit Präsident Hollande und der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo ausgesprochen leise inszeniert sind, ohne die sonst obligatorischen Reden von Amtsträgern. Nur vor dem Stade de France wird gesprochen. Michael Dias erinnert sich an die ersten Nachrichten an dem verhängnisvollen Abend. „Zum Glück gab es nur einen Toten. Ich war weit davon entfernt, mir vorzustellen, dass das einzige Opfer mein Vater sein könnte.“ Der damals 63-jährige Chauffeur Manuel Dias hatte vor dem Stadion auf eine Gruppe Fußballfans gewartet. Erhobenen Kopfes wolle er weitermachen, sagt der Sohn des Getöteten, der einst als junger Mann aus Portugal eingewandert ist. Aber er wünsche sich auch eine tolerantere Gesellschaft: „Bildung und Integration ist der Schlüssel.“
Wenig später vor dem „Bataclan“ steht in der Besuchermenge Jesse Hughes, der Sänger der „Eagles of Death Metal“. Nach scharfer Kritik am Sicherheitspersonal, das er sogar der Zusammenarbeit mit den Terroristen verdächtigt hatte, hat er sich mit der Direktion des Musikklubs überworfen. „Es gibt Dinge, die man nicht vergisst“, sagt Jules Frutos, einer der „Bataclan“-Chefs. Als Hughes und ein Bandmitglied am Samstagabend in den Klub wollen, werden sie abgewiesen.
Sting beginnt mit einer Schweigeminute
Auch so wird dieser Abend denkwürdig. Zur offiziellen Wiedereröffnung nach einem Jahr Renovierungsarbeiten sind unter den 1500 Gästen etwa 250 Überlebende und Angehörige von Opfern. Es tritt auf: der britische Superstar Sting. Er beginnt mit einer Schweigeminute. „Wir haben heute zwei Aufgaben“, sagt er dann in fast perfektem Französisch. „Zum einen an jene zu erinnern, die beim Attentat vor einem Jahr ihr Leben verloren haben. Und dann das Leben und die Musik zu feiern, die dieser historische Konzertsaal repräsentiert.“ Sein erstes Stück treibt vielen Besuchern Tränen in die Augen: „Fragile“ – über die Zerbrechlichkeit des Lebens.
Zum Ende seines Auftritts ruft er „Vive le Bataclan“, Es lebe das Bataclan, und verlässt die Bühne. Um noch einmal zurückzukehren und sein Lied „The Empty Chair“ über den 2014 von Dschihadisten im Irak hingerichteten US-Journalisten James Foley zu singen. „Ich widme diesen Song allen Familien, die jemanden verloren haben“, sagt er.
Menschen wie Aurélie Silvestre. Zu Sting ist sie nicht gegangen. Und doch hat sie gelernt, nach vorne zu sehen. Weiterzuleben. „All das hätte mich niederschmettern können. Aber nein. Meinen Kindern geht es gut, mir geht es gut. Mein Alltag ist alles andere als einfach, aber ich weiß, dass meine Fähigkeit zu lieben intakt ist.“ Einst hat sie Matthieu ein Versprechen gegeben: „Dass wir glücklich sind.“ Das gilt. Auch an jedem Tag, der auf den 13. November 2015 folgt.
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