Was es für Amerikanerinnen bedeutet, wenn das Abtreibungsrecht gekippt wird
Schon bald könnte das oberste Gericht der USA das vergleichsweise liberale Abtreibungsrecht aufheben – mit weitreichenden Folgen. Eine Frau erinnert sich an ihr Trauma.
Auch 53 Jahre danach fällt es ihr schwer, über das Erlebte zu reden. Angela Fremont erzählt dennoch, wie sie als 18-Jährige ungewollt schwanger wurde und dann von einer Bekannten eine Telefonnummer bekam, die sie auf Umwegen zu einem dreckigen Schuppen am Ende einer Schotterpiste in Alabama führen sollte. Als sie die Pritsche beschreibt, auf der ihr dort eine Frau einen Schlauch durch die Vagina bis in den Gebärmutterhals schob, kann Fremont nur mühsam die Fassung bewahren. „Es war furchtbar“, sagt sie.
Die Geschichte, die Angela Fremonts Leben prägen sollte, spielt im Herbst 1969. Damals waren Abtreibungen in weiten Teilen der USA verboten. Sie lebte bei ihrer Großmutter und fühlte sich der Verantwortung für ein eigenes Kind nicht gewachsen. Ein Arzt aber, den sie aufsuchte, beschimpfte sie als „Hure“. So landete sie bei der illegalen Hebamme vor den Toren der Industriestadt Birmingham.
Der 300 Dollar teure Eingriff, erzählt Fremont, sei ohne Betäubung und ohne ordentliche Desinfektion erfolgt. Unmengen von Mullwatte sollten die Blutung stoppen. Nach 24 Stunden war sie extrem geschwächt, hatte hohes Fieber und spürte den penetrant fauligen Geruch einer Sepsis. Besorgte Freunde fuhren sie in die Notaufnahme eines Krankenhauses, wo sich vor der Aufnahme eine Bekannte als ihre Mutter ausgeben musste. Eine Ausschabung rettete ihr vermutlich das Leben. Neben ihrem Bett standen zwei Polizisten, die alles über den Tathergang wissen wollten. „Ich habe nichts gesagt aus Angst, dass ich im Gefängnis lande“, sagt Fremont.
Wird das bahnbrechende Urteil „Roe gegen Wade“ aufgehoben?
Ein halbes Jahrhundert später lebt die inzwischen 71-Jährige als Malerin und Kunsterzieherin im hippen East Village von Manhattan. Sie ist glücklich verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Die Erinnerung an das traumatische Erlebnis von 1969 ist allerdings präsenter denn je – überlagert von Wut und Empörung. Wie viele Frauen in den USA fürchtet Fremont nämlich, dass ihr Land sehr bald zurück in eine Zeit geschleudert wird, in der „ein Mensch gedemütigt wird und in Lebensgefahr gerät, weil er einen Fehler gemacht hat“.
Noch in diesem Monat dürfte der Supreme Court in Washington, das oberste US-Gericht, die Weichen für eine folgenreiche Entwicklung stellen: Die rechtskonservative Mehrheit des Gerichts scheint entschlossen, das bahnbrechende Urteil „Roe gegen Wade“ aufzuheben. Seit jener Entscheidung von 1973 darf eine Frau in den USA ihre Schwangerschaft grundsätzlich bis zur Lebensfähigkeit des Fötus – nach heutigem medizinischen Stand die 24. Woche – abbrechen. Wird diese höchstrichterliche Vorgabe gekippt, treten im Süden der USA, entlang der Rocky Mountains und in Teilen des Mittleren Westens automatisch Abtreibungsverbote in Kraft.
Als ein erster Entwurf des drohenden Urteils vor einem Monat durchsickerte, war die Empörung riesengroß. Mehr als hunderttausend Menschen gingen im ganzen Land auf die Straßen, Kongresspolitiker hielten vor laufenden Kameras flammende Reden. Eilig brachten die Demokraten im Senat ein Gesetz ein, das das geltende Abtreibungsrecht festschreiben sollte. Bei der Abstimmung scheiterten sie kläglich. Dann wurde es etwas ruhiger.
Vier Wochen verbleiben den neun Richtern in dieser Sitzungsperiode noch für ihr Urteil
Doch die vermeintliche Ruhe trügt. Die neuerdings doppelreihige Abriegelung des marmorweißen Supreme Courts mit Sperrgittern lässt erahnen, wie angespannt die Lage tatsächlich ist. Vier Wochen verbleiben den neun Richtern in dieser Sitzungsperiode noch für ihr Urteil.
„Alles deutet darauf hin, dass das Gericht kurz davorsteht, ,Roe gegen Wade‘ zu kippen“, sagt Nina Totenberg. Die Reporterin des öffentlichen Senders NPR gilt als die Grand Dame der Verfassungsgerichts-Berichterstattung in den USA. Sie ist sicher: „Dann wird die Abtreibung in rund der Hälfte des Landes illegal werden.“ Nur auf den ersten Blick geht es beim Streit über das Abtreibungsrecht um eine formale juristische Frage: Die Gegner der geltenden Regelung argumentieren, die Entscheidung über die Strafbarkeit obliege nicht Washington, sondern den Parlamenten der Bundesstaaten. Weder finde sich in der Verfassung von 1787 ein Recht auf Abtreibung noch lasse es sich aus der Tradition oder Geschichte der Nation herleiten, doziert der ultrakonservative Richter Samuel Alito in dem von ihm formulierten Urteilsentwurf.
Die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung ist für ihn dabei ebenso unerheblich wie die gesellschaftlichen Konsequenzen einer abrupten Aufhebung des geltenden Rechts.
28 US-Bundesstaaten haben bereits strenge Restriktionen oder Abtreibungsverbote
Das vergleichsweise liberale Abtreibungsrecht steht seit langem im Fokus insbesondere eines von fundamentalistischen weißen Christen befeuerten Kulturkampfes in den USA. Ex-Präsident Donald Trump zementierte schließlich mit der Berufung von drei ultrakonservativen Juristen die rechte Mehrheit am Supreme Court. Wenn diese das „Roe-gegen-Wade“-Urteil kippt, löst sie eine Kettenreaktion aus: 28 US-Bundesstaaten haben eigene strenge Restriktionen des Schwangerschaftsabbruchs beschlossen oder Gesetze verabschiedet, die nach einem Spruch des Verfassungsgerichts die Abtreibung ganz verbieten.
So gilt in Texas als zweitgrößtem Bundesstaat seit dem vergangenen September ein Gesetz, das Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche selbst bei einer Vergewaltigung verbietet. Im benachbarten Oklahoma ist seit Neuestem jegliche Abtreibung vom Moment der Befruchtung an illegal. Beide Staaten müssen bislang das geltende Bundesrecht trickreich umgehen, indem sie Verstöße nicht von der Polizei, sondern von Privatleuten anzeigen lassen.
Etwas weiter nordöstlich in Missouri haben die Parlamentarier beschlossen, dass künftig sogar Abtreibungen jenseits der Landesgrenze geahndet werden sollen. In Louisiana fordern Republikaner, Schwangerschaftsabbrüche als Mord zu definieren, der theoretisch mit der Todesstrafe geahndet werden könnte.
Für Kompromisse bleibt da kaum Platz – obgleich die Bevölkerung das Thema insgesamt differenzierter zu betrachten scheint, als es die hochemotionale, polarisierte politische Debatte vermuten lässt. So sprechen sich bei Umfragen regelmäßig rund zwei Drittel der Befragten für die grundsätzliche Beibehaltung des Rechts auf Abtreibung aus. Ähnlich viele Befragte befürworten aber ein Verbot nach der 14. statt der 24. Schwangerschaftswoche. Das wäre eine ähnliche Regelung, wie sie in Deutschland oder Frankreich gilt. Rechten Hardlinern ist diese Frist viel zu lang. Viele Linke sehen eine Einengung des geltenden Rechts dagegen als politischen Verrat.
Mehr als 33 Millionen Amerikanerinnen könnten Zugang zu Abtreibungskliniken verlieren
Also versuchen die Demokraten derzeit vor allem, die liberalen Regelungen in den von ihnen regierten Bundesstaaten zu verteidigen und möglichst gesetzlich zu verankern. Gleichzeitig richten sie sich auf einen Ansturm von Hilfesuchenden aus anderen Bundesstaaten ein: Mehr als 33 Millionen Amerikanerinnen im gebärfähigen Alter könnten nach einer Aufstellung der New York Times durch die Verbote den Zugang zu Abtreibungskliniken verlieren. Sie müssten dann Reisen durchs halbe Land auf sich nehmen – wenn sie in ihrer Not nicht Zuflucht bei fragwürdigen illegalen Einrichtungen suchen.
Dass es sich um ein ernsthaftes, großes Problem handelt, wird daran deutlich: Seit einigen Monaten verspüren von den Demokraten regierte Bundesstaaten eine verstärkte Nachfrage von Schwangeren aus Regionen, die Abtreibungen reglementiert oder untersagt haben. Die liberalen Hochburgen New York und Kalifornien haben Hilfsfonds von 35 und 40 Millionen Dollar für unversicherte Frauen eingerichtet, da die Abtreibungsverbote vor allem sozial schwache Afroamerikanerinnen treffen. „Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, sind überproportional arm und leben in unsicheren Verhältnissen“ , fand die Wirtschaftsprofessorin Caitlin Knowles Myers vom Middlebury College in Vermont heraus. Ausgerechnet „die Verletzlichsten aus einer verletzlichen Gruppe“ bekämen künftig Probleme.
Apple, Amazon und Levi’s übernehmen Reisekosten, wenn am Standort Abtreibung verboten wird
Auch Unternehmen haben auf die Entwicklung reagiert. Apple, Amazon und Levi’s versprachen ihren Beschäftigten, die Reisekosten zu übernehmen, wenn am Standort ihres Betriebes Abtreibung verboten wird. Kommunalpolitiker, die sich um die Neuansiedlung von Betrieben bemühen, befürchten einen Standortnachteil. Tim Kelly beispielsweise, der parteilose Bürgermeister von Chattanooga, verkauft seine Stadt im Südosten des konservativen Bundesstaats Tennessee bei Investoren als Boom-Town mit hoher Lebensqualität, vielen Grünflächen und „dem schnellsten Internet der Welt“. Das heikle Abtreibungsthema möchte er bei einem Gespräch am liebsten meiden: „Ich versuche mich auf das zu konzentrieren, was ich beeinflussen kann.“ Dann aber räumt er ein: „Jeder Bürgermeister, der weiß, dass die meisten Unternehmen und Arbeitnehmer in diversen und progressiven Städten leben wollen, muss besorgt sein über die Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum.“
Im sogenannten Bibelgürtel der USA zählt das nicht wirklich als Argument. Bereits 2020 hat der republikanische Gouverneur von Tennessee, Bill Lee, ein weitreichendes Abtreibungsverbot erlassen – das bislang von einem Bundesgericht blockiert ist. Sobald der Supreme Court entscheidet wie erwartet, wird das Gesetz aufleben. Und nicht nur das: Auch der Versand von Abtreibungspillen wird dann in Tennessee bei einer Strafe von 50.000 Dollar verboten sein.
Knapp 1500 Kilometer nordöstlich in Manhattan richtet sich Angela Fremont wegen all dem auf einen langen und schwierigen Kampf ein. Ihre persönliche Erfahrung, berichtet sie, habe sie zur Aktivistin gemacht: „Es kann nicht sein, dass einige wenige nun Millionen Frauen das Recht nehmen, über ihren Körper zu bestimmen.“ Wie das Urteil und seine Folgen noch aufzuhalten wären, weiß sie nicht. Wohl aber, dass sie nicht leise sein wird.
Das ist sie schon jetzt nicht, an diesem nebeligen Mai-Tag. An dem steht die 71-Jährige mit einem großen Schild vor der New Yorker City Hall. „Ich habe eine illegale Abtreibung in Birmingham, Alabama, im Jahr 1969 überlebt“, hat sie auf ein Schild geschrieben. Und darunter den fast trotzigen Appell: „Nie wieder“.
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