Früherer Ifo-Chef Sinn kritisiert späte Zinswende der EZB
Exklusiv Finanzexperten kritisieren die angekündigte Zins-Erhöhung der EZB angesichts der hohen Inflation als zu zögerlich. Was Hans-Werner Sinn sagt.
Die letzte Zinserhöhung im Euro-Raum liegt knapp elf Jahre zurück. Und seit gut sechs Jahren verfolgt die Europäische Zentralbank eine gerade in Deutschland kritisierte Nullzins-Politik. Doch am Donnerstag hat EZB-Präsidentin Christine Lagarde in Amsterdam zumindest eine Mini-Zinserhöhung von 0,25 Prozentpunkten in Aussicht gestellt. Die von Ökonominnen und Ökonomen seit langem eingeforderte Zinswende zur Eindämmung der ausufernden Inflation lässt allerdings noch eine Weile auf sich warten. Der EZB-Rat will den historischen Beschluss nach einer im Euro-Raum auf das Rekordhoch von 8,1 Prozent gestiegenen Teuerung erst auf seiner Sitzung im Juli fassen. Bereits Ende Juni stellt die Zentralbank den Zukauf von Anleihen ein. Mit dem Instrument hat sie in der Banken- und Eurokrise und später während der Pandemie versucht, die Konjunktur anzukurbeln und Schuldenländer zu stützen.
Dass sich die EZB zu Zinserhöhungen durchringt, deutet sich seit Wochen an. Dabei wird sie wohl im September wiederum mit einem Schritt um 0,25 Prozentpunkte nachlegen. Sollte die Inflation bis dahin stärker als befürchtet nach oben schnellen, schließen Beobachter auch eine Erhöhung um 0,5 Prozentpunkte nicht aus. Zum Jahresende hin könnten die Zinsen dann Richtung 1,0 Prozent marschieren.
Der Druck auf die Europäische Zentralbank ist groß
Der Druck auf Lagarde ist groß, denn die US-Notenbank war zuletzt vorgeprescht und hatte die Zinsen erneut nach oben gesetzt – und zwar kräftig um 0,5 Prozentpunkte. Durch den Zinsunterschied zwischen Amerika und dem Euro-Raum wird es attraktiver, Geld in den USA anzulegen. Lagarde machte auf der Pressekonferenz nach der Ratssitzung des Zentralbankrates auch deutlich, dass die Strafgebühren für Banken, die Geld bei der Zentralbank anlegen, also der sogenannte Negativzins, schrittweise bis zum Herbst fallen sollen. Die nun folgenden Zinserhöhungen sind von den Finanzmärkten zum Teil schon vorweggenommen, also eingepreist worden. So stiegen zuletzt die Hypothekenzinsen auffällig an. Da höhere Zinsen Gift für die Aktienmärkte sein können, gab der Dax am Donnerstag erneut nach. Andererseits locken nun wieder höhere Zinsen auf Spareinlagen, was viele Bürgerinnen und Bürger lange schmerzhaft vermisst haben.
Tempo und Umfang der veränderten Geldpolitik der EZB gehen Politikern und Ökonomen angesichts der sehr hohen Inflation nicht weit genug. So sagte der Europa-Politiker und CSU-Finanzexperte Markus Ferber unserer Redaktion: „Die von Lagarde in Aussicht gestellte Zinserhöhung um 0,25 Prozentpunkte ist viel zu zaghaft.“ Und er forderte: „Es wäre dringend notwendig, dass die EZB die Zinsen in einem Zug um 0,5 Prozentpunkte nach oben setzt, um der hohen Inflation entgegenzutreten.“ Der wirtschaftspolitische Sprecher der EVP-Fraktion im Europaparlament kritisierte die Notenbankchefin: „Weil sie zu lange Zinserhöhungen verweigert hat, ist sie nun nicht mehr Herrin des Verfahrens, sondern eine Getriebene. Lagarde ist spät dran. Sie hätte die Zinsen vor einem halben Jahr erhöhen müssen.“
Inflation bleibt wohl länger
Geht es nach Hans-Werner Sinn, dem früheren Chef des Ifo-Instituts, hätte die Zentralbank vor einem Jahr die Zinsen anheben müssen. Im Gespräch mit unserer Redaktion zeigte er sich enttäuscht über den angekündigten Zinsanstieg um 0,25 Prozentpunkte. Seiner Ansicht nach ist eine kräftigere Zinserhöhung notwendig. Der Ökonom sagte: „Doch diese kräftige Zinserhöhung kommt nicht, weil die EZB politisch Rücksicht auf hoch verschuldete Euro-Länder des Südens nimmt.“ Für Sinn „werden wir leider länger mit einer höheren Inflation leben müssen“.
Die Diskussion ist geschlossen.
Noch drückt sich die EZB vor einer „echten“ Zinswende. Kräftige Zinserhöhungen würden stark verschuldete Staaten schwer belasten und das Risiko einer neuen Finanzkrise erhöhen. Zu lange hat europäische Politik die Wirklichkeit ignoriert. Diese präsentiert uns jetzt die Rechnung. Europa steht vor einem finanz- und geldpolitischen Scherbenhaufen!
Herr Lothar Thürmer, ich lese gerne die Artikel des Ökonomen Sinn und kommentiere sie auch gelegentlich. Hinsichtlich TARGET2 und dem Euro teile ich im Ergebnis seine kritische Einschätzung. Ich denke, es müssen die Vereinigten Staaten von Europa sehr bald errichtet werden oder der Euro und mit ihm die EU sind nicht zu halten.
Allerdings für die aktuelle Inflation mache ich nicht die Konstruktionsfehler des Euro und das Agieren der EZB verantwortlich. Am Markt fehlen die kostengünstigen chinesischen Produkte und der Ukrainekrieg verteuert die Energie. Nach meiner Sicht sind es insbesondere die Sanktionen des Westens, die uns Deutschen besonders harttreffen.
Ihnen antworte ich, weil Sie noch vor ein paar Tagen im Zusammenhang mit dem „Squeeze-out“ bei Kuka (Keller und Knappich) die Zusammenarbeit mit China besonders kritisch sahen. Dabei war das Ganze nicht nur mit dem deutschem Aktienrecht vereinbar, sondern schon vielfach von deutschen Unternehmen praktiziert worden. (Jedenfalls liefert ein Googeln mit dem Stichwort „Squeeze-out“ weitere bekannte Namen aus unserem Raum, wie z. B. Audi oder Sachsenmilch aus der Unternehmensgruppe Theo Müller (heutiger Sitz in Luxemburg). „Der Squeeze-out bei Kuka ist nur einer von vielen“ (https://www.juve.de/deals/naechster-boersenrueckzug-der-squeeze-out-bei-kuka-ist-nur-einer-von-vielen/).
Sinn ist ein Ökonom, der seit 20 Jahren darauf wartet, dass seine Katastrophenszenarien endlich eintreten und der mehrmals Fehleinschätzungen zugeben musste.